Vom Leben und Leiden meiner Mutter

Meine Mutter wurde am 27. Mai 1939 im kleinen Örtchen namens Fischenthal im Zürcher Oberland als uneheliches Kind geboren. Die Mutter meiner Mutter, meine Grossmutter, hatte in dem kleinen Dorf keinen guten Ruf. Sie war ein sogenanntes „Beeri“, ein leichtes Mädchen, hiess es. Gehe mit jedem daher gelaufenen „Halodri“ ins Bett. Ein uneheliches Kind in dieser Zeit – kein guter Start ins Leben für ein kleines, unschuldiges Mädchen. Ihr Vater? Unbekannt. Meine Grossmutter? Masslos überfordert. Sie hat die kleine Elisabeth, kaum auf der Welt, zu ihren Eltern gebracht. Die Grossmutter, meine Urgrossmutter, kümmerte sich sehr liebevoll um ihre Enkelin. Der Grossvater auch. Zu liebevoll. Als meine Mutter sechs Jahre alt war, wurde ihr Grossvater verhaftet. Er kam wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern aus dem Dorf ins Gefängnis. Auch meine Mutter war ein Opfer. Vielleicht auch ihre Mutter, meine Grossmutter, als diese noch ein Kind war? Ein dunkles Familiengeheimnis lässt sich da nur ansatzweise erahnen.

 

Danach kam meine Mutter zu einer Bauernfamilie in Pflege. Sie durfte zwar die Schule besuchen, aber sonst war harte, körperliche Arbeit an der Tagesordnung. Lief etwas nicht zur Zufriedenheit der Pflegemutter, was leider sehr häufig vorkam, wurde die kleine Elisabeth verprügelt und mit eisig kaltem Wasser abgespritzt. Zu essen gab’s Brot und wässrige Suppe. Meine Mutter hatte vor dieser Frau furchtbare Angst. Sie ängstigte sich so sehr, dass sie sich während der Arbeit oft einnässte, weil sie sich nicht traute, zu fragen, ob sie auf die Toilette darf. Auch dafür setzte es Prügel. Vier Jahre lang lebte meine Mutter bei dieser Familie. Sie ging zur Schule, arbeitete, wurde geschlagen, ging zur Schule, arbeitete, wurde geschlagen. Ein Kreislauf des Grauens. Keine Liebe sondern Angst, Schläge und Prügel waren das täglich Brot meiner Mutter.

 

Mit 10 Jahren kam sie in ein Kinderheim. Psychisch litt meine Mutter schon damals unter diversen Psychosen, schweren Depressionen und Schlafstörungen. Mit Müh’ und Not schaffte sie es als 14Jähriges Mädchen ein Haushaltslehrjahr bei einer Pfarrersfamilie zu absolvieren. Diese Menschen waren sehr lieb zu meiner Mutter, doch die Seele meiner Mutter war schon zu schwer verletzt. Narben, die mehr verheilen werden. Ein ganzes Leben lang nicht. Eine zerstörte Kinderseele – zerstört für immer.

 

Meine Mutter versuchte eine Lehre als Psychiatrie Krankenschwester zu absolvieren. Ironie des Schicksals? Kurz vor Ende musste sie die Lehre jedoch wegen zu vieler krankheitsbedingter Absenzen abbrechen.

 

1966 lernte sie meinen Vater kennen. Er liebte meine Mutter heiss und innig. Beim Räumen der Wohnung meiner Eltern habe ich eine Menge Briefe gefunden, die mein Vater meiner Mutter zwischen 1966 und 1974 geschrieben hat. Briefe voller Liebe, Wünsche und Sehnsüchte. Beim chronologischen Lesen wird jedoch sehr schnell klar, welche Themen ihre Beziehung dominieren. Die Depressionen meiner Mutter. Die Trauer meiner Mutter. Die Zwänge meiner Mutter. Die Süchte meiner Mutter. Das Unglück meiner Mutter. Sie legten sich bereits in den Anfängen ihrer Beziehung wie ein vergilbter Schleier über ihre Liebe. Zuerst nur wie ein Schatten, der jedoch im Laufe der Zeit immer schwärzer und schwärzer wurde. Auch mein Vater hat seine dunklen, schweren Seiten. Das hat es für meine Mutter nicht einfacher gemacht.

 

Im Jahr 1972 habe ich dann als einziges Kind meiner Eltern das Licht der Welt erblickt. Mit diesem Hintergrundwissen kann sich der geschätzte Leser vermutlich vorstellen, dass dies für meine Mutter alles andere als einfach war. Wie Liebe geben, wenn man selbst keine Liebe erfahren hat? Wie sich kümmern, wenn sich nie jemand um einem selbst gekümmert hat? Den grössten Teil meiner Kindheit bin ich nicht zuhause aufgewachsen. Und das war gut so. Es geht hier heute aber nicht um mich, sondern um die Geschichte meiner Mutter. Um ihr Leben und um ihr Leiden.

 

Meine Mutter war beinahe ihr ganzes Leben lang in psychiatrischer Behandlung, mehrfach auch stationär. Heute gilt sie als austherapiert.

 

Tabletten und Alkohol waren ihre regelmässigen Begleiter. Mit zwanghaften Handlungen versuchte sie verzweifelt, ihrem Leben eine Struktur zu geben.

 

1982 wollte sie ihrem Leben ein Ende setzen. Sie legte sich dafür hin und schluckte einen Becher voller Medikamente. Und wartete. Mein Vater fand sie bewusstlos auf dem Bett liegend und verständigte umgehend die Sanitäter. Ihr Magen wurde ausgepumpt. Ihr Leben wurde gerettet.

 

Doch zu welchem Preis? Meine Mutter sagt auch heute noch, dass, wenn mein Vater in dieser besagten Nacht später nach Hause gekommen wäre, sie mit Bestimmtheit gestorben wäre und dass das für sie besser gewesen wäre, als hier auf Erden als psychisches Wrack dahin zu vegetieren.

 

Meine Mutter liebte Musik. Sie spielte Querflöte und hat sich selber das Mundharmonika spielen beigebracht. Sie kannte viele bekannte Schlager der 50er- und 60er Jahre in- und auswendig und es gab auch Momente, in denen sie fröhlich und ausgelassen alle Lieder mitgesungen hat. Meine Mutter war ein grosser Fan von Elvis Presley. Als junge Frau war es ihr innigster Wunsch, einmal ein Konzert von ihm zu besuchen. Leider hat sich das nie ergeben.

 

Musik war für meine Mutter eine sehr wichtige Ressource. Eine Quelle der Freude und Leichtigkeit. Mit Musik erlebte sie Momente des Glücks und der Unbeschwertheit.

 

Heute ist die Musik verstummt. Meine Mutter wird in diesem Jahr 76 Jahre alt. Der letzte stationäre Aufenthalt liegt rund ein halbes Jahr zurück. Die Krankenschwester fragte mich bei der Entlassung, ob es denn wirklich gar nichts gäbe, was meiner Mutter Freude bereitet. „Früher war es die Musik“, antwortete ich. Aber heute? Ich weiss es nicht.“

 

Meine Mutter lebt seit bald zwei Jahren mit meinem Vater im Altersheim. Sie leben gemeinsam einsam in einem kleinen 2-Zimmer-Appartement. Zwei verlorene Seelen. Am selben Ort, in zwei verschiedenen Welten.

 

Wann ich meine Mutter zum letzten Mal lachen gehört habe? Es liegt so weit zurück, dass ich mich kaum daran zu erinnern vermag. Geistig geht es ihr gut. Körperlich geht es ihr gut. Psychisch leidet sie auch heute noch – sie nennt es selbst – „Höllenqualen“.

 

Meine Mutter glaubt an Gott und an ein Leben nach dem Tod. An ein besseres Leben. Sie hat früher oft erzählt, dass ihr im Traum Engel erschienen sind, die sie auf Flügeln gen Himmel getragen haben. Irgendwie, irgendwann, irgendwo. Möge sich ihr letzter Traum und ihre Hoffnung erfüllen. Dafür bete ich. Nicht Tag für Tag, aber immer mal wieder.

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

22 Kommentare zu „Vom Leben und Leiden meiner Mutter

  1. Mit einfacher Wörter Intime Familie geschichte zu erzählen und das hoffentlich ! Sehr schön und mit liebes Gefühl ohne hasse und rache bravo und dazu kannst Du sehr stolz sein von deiner Familie … Weil alle so toll sind bisous laurence

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  2. Liebe Laurence, danke für deine Worte. Ja, du hast Recht, ich habe eine aussergewöhnlich tolle Familie. Ich bin mir dessen mehr denn je bewusst und weiss es über alle Massen zu schätzen. Herzlich, Franziska

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  3. Fränzi, habe gerade die Geschichte deiner Mutter gelesen. Ich denke, in Fischenthal (meine Nachbargemeinde) gibt es heute vermutlich noch Leute, die sich daran erinnern könnten, z.B. Schuelkamerädli. Ja, leider gab und gibt es immer wieder solche Geschichten … Aber schön geschrieben, gratuliere!
    Lieber Gruss Jürg

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  4. Lieber Jürg, ja ich erinnere mich, dass Du aus derselben Gegend wie meine Mutter stammst. Danke für Dein Kompliment. Liebe Grüsse und Happy Weekend. Herzlich, Franziska

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  5. Es hilft, die sich mit der Geschichte der Eltern zu beschäftigen, weil man dann besser verstehen kann, warum sie sind wie sie sind und tun was sie tun. Als Kind hat man mitunter ja Mühe, die Eltern auch mit ihren Fehlern anzunehmen. Ich hoffe, du hast trotz allem eine liebevolle Beziehung zu deiner Mutter, es ist das Beste, was einem passieren kann. Aber die Geschichte ist an sich ist erschütternd und was deiner Mutter angetan wurde, ist kriminell.

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  6. Eine Beziehung ist etwas gegenseitiges. Mit meiner Mutter gestaltet sich die Beziehung deshalb sehr schwierig, da sie sich ganz in ihre eigene Welt zurückgezogen hat. Herzlich, Franziska

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  7. Man könnte meinen, uns verbindet manches….

    Es ist erschreckend, wie sich dieser rote Faden der Gewalt und des MIßbrauchs immer gleich durch ganze Familien; viele Generationen schleicht.
    Auch meine Mutter hat dies erleben müssen – hat eine ähnliche Geschichte wie deine – lebt jedoch noch Zuhause und redet sich ihre Welt schön und unbeschädigt. Wir haben keinen Kontakt – ich komme nicht klar mit Lügen. Schon garnicht, wenn diese Lügen MICH zur Lügnerin machen.

    Auch ich habe eine Tochter; auch sie wurde mißbraucht.
    Auch sie muß damit klar kommen, dass ich aus Unwissenheit; aus nie-erlebt-haben nicht wußte, wie es geht, ein Kind zu lieben.

    Ich hoffe, sie kann irgendwann auch verstehen; erkennen; begreifen.
    Auch sie kann mich trotzdem lieben; trotzdem schätzen; trotzdem achten.
    Vielleicht sogar ein kleines bißchen verstehen.
    Es tut sehr weh als Mutter, das eigene Unvermögen wahrhaft zu sehen; es zu erkennen. Und dennoch nichts – rein garnichts tun zu können, um es zu ändern. Denn die Zeit rennt davon – und bis man irgendwann ein kleines bißchen soweit sein könnte, lieben zu können….. – ist das Kind erwachsen; die Fehler gemacht; die Liebe klein geschrumpft und nichts mehr da, das man „wieder-gut-machen könnte“. Und das tut weh.

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  8. Liebe Floh
    Zuerst einmal herzlichen Dank für dein fleissiges Reinlesen in meine Beiträge. Wow! Grossartig! Es freut mich sehr, zu lesen, dass du einen Mann hast, dem du vertraust und der dich liebt und in deinen Vorhaben stärkt. Für die Liebe ist es nie zu spät. Auch für die zu seinem Kind. Das ja immer noch dein Kind ist, war und bleibt, auch als Erwachsene. Du nennst es „Wieder-gut-machen-können“. Was war, das war. Ist vorbei, kommt nicht mehr. Aber ich weiss, dass man neu anfangen kann. Dass jeder Tag eine neue Chance ist. Veränderung beginnt immer am gleichen Ort. Bei sich selber. Und das Wollen ist bereits ein Anfang. Herzlich, Franziska

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  9. Liebe, liebste Franziska,

    ich bin nun „durch“ mit der Geschichte deiner Eltern und der deinen. „Durch“ im mehrfachen Sinne – ich habe deine Beiträge dazu gelesen und merke zugleich die Anstrengung, die es kostet, weil so vieles davon die eigenen Anknüpfungspunkte triggert.
    Auch ich habe angefangen, meine Geschichte aufzuschreiben – alte Dinge zu verarbeiten, teilweise auch auf meinem Blog. Das Schreiben hat aber eine ganz eigene Intensität bei mir, ich kann viel leichter darüber sprechen – das Schreiben ist da etwas anderes. Ich habe großen und größten Respekt vor dir, deiner Geschichte, der Geschichte deiner Eltern und vor allem deinem Umgang damit. Ich weiß, wie schwer es sein kann, zuzugeben, dass die eigenen Eltern Dinge falsch gemacht haben – und zugleich anzuerkennen, dass sie es nunmal nicht besser konnten, weil auch sie es sehr schwer hatten.

    Ich kann nur hoffen, dass es eine Frage der Zeit ist, bis ich mich an solche Themen genauso heranwagen kann, ohne gleich dieses erdrückende Gefühl der Enge zu spüren. Aber es sind erst vier Monate vergangen, seit meine Mutter (nach den letzten Jahren dann in Heimen, Psychiatrien und der Obdachlosigkeit) an ihrer Leberzirrhose gestorben ist. Das ist wohl noch keine Zeit – ich will also geduldig sein.

    Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach wenigen Tagen in der Bloggerwelt bereits einen solchen Lichtblick finde.
    Ich bin durchaus sehr zufrieden mit mir, meinem Leben und meiner Herangehensweise bei einer ähnlichen Geschichte wie der deinen. Man kann sehr stolz auf sich sein, finde ich, wenn man wieder einen gesunden Schritt nach vorn gemacht hat. Und trotzdem ist es schön zu sehen, dass man nicht allein ist.

    Es ist mehr als beeindruckend zu lesen, wie gut du zurechtkommst, dass du Kinder hast; mit ihnen, dir selbst und deinem Leben im Reinen bist und ich kann nicht in Worte fassen, wie gut es tut zu lesen, dass Menschen mit einer solchen Vergangenheit eben doch eine Chance auf ein gesundes Leben haben. Das macht Mut. So stark man auch immer zu sein glaubt – hin und wieder ist es wichtig, Inspiration, Anregungen und vielleicht auch Vorbilder um sich her zu erkennen. Zu erkennen, dass man nicht allein ist und zu sehen, was möglich ist, wenn man bereit ist, diesen Weg dorthin zu gehen.

    Ich danke dir von ganzem Herzen dafür, dass du dich entschieden hast, deine Geschichte mitzuteilen und du hast meinen größten Respekt dafür, diese Entscheidung auch umzusetzen.

    Mit den allerherzlichsten Grüßen

    Ophelia

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  10. Liebe Ophelia
    Ich finde es ganz wunderbar, dass du dir die Zeit nimmst, dich mit den Themen auf meinem Blog auseinanderzusetzen. Es ist schön, zu wissen, dass es Menschen da draussen gibt, die sich für „meine“ Themen intereressieren. Ich habe einmal folgendes geschrieben: „Ich versuche, meine Erkenntnisse in eine nachvollziehbare und gut reflektierte Form zu bringen. Dies geschieht durchaus in der Hoffnung, dass andere Menschen daraus einen Nutzen ziehen können. Meine Blog Posts über meine belastende Kindheit sollen aufzeigen, wie sich so eine Geschichte auf ein Leben auswirken kann. Wenn ich über meine Kindheit schreibe und was diese alles in mir ausgelöst hat und was ich trotzdem alles in meinem Leben erreicht habe, dann soll nicht das Heldentum im Vordergrund stehen. Meine Geschichte steht nicht stellvertretend für eine magische Heilung, ein „am Ende wird sowieso alles gut, man muss es nur wollen“. Das passiert nämlich nur im Märchen. Das richtige Leben schreibt jedoch ganz andere Geschichten. Ich will zeigen, dass man nie die Hoffnung verlieren soll. Darauf läuft es hinaus. Wenn meine persönliche Lebensgeschichte nur einer einzigen Person Hoffnung macht, dann habe ich mit dem Entscheid, so offen über meine Kindheit zu schreiben, ganz klar die richtige Wahl getroffen. Herzlich, Franziska

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