Es ist soweit. Was sich seit drei Jahren schleichend angekündigt hat, ist seit gestern eine Tatsache. Meine Mutter kann nicht länger im Altersheim wohnen bleiben und wird auf die gerontopsychiatrische Abteilung eines Pflegeheims verlegt – für immer.
Damit ist unweigerlich auch die Trennung von meinem Vater verbunden. Etwas, das ich mir immer für die beiden gewünscht hätte, da ich schon lange erkannt habe, dass meine Eltern sich gegenseitig nicht guttun. Ich dachte dabei natürlich an zwei Einzelzimmer anstelle einer gemeinsamen Wohnung. So dass man sich, da im gleichen Altersheim wohnend, besuchen kann (wenn man denn möchte…).
Nun wird meine Mutter aber an einen ganz anderen Ort verlegt und ich bin mir aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen ganz sicher, dass sich die Beiden niemals wiedersehen werden. Vielleicht, und nicht einmal das ist gewiss, am Grab auf dem Friedhof. Ein gemeinsames Leben nach 39 Jahren des Zusammenseins neigt sich dem Ende zu. Das war nicht das, was ich mir für die Beiden gewünscht hätte. Ja, ja, ich weiss, das Leben ist kein Wunschkonzert. Das wird mir einmal mehr schmerzlich bewusst.
Psychisch kranke Menschen leiden. Ein Krebsgeschwür in der Seele. Krebs kann man manchmal heilen. Leider oft auch nicht. Auch psychisch Kranke Menschen können wieder gesund werden. Wenn der Krebs die Überhand gewinnt und er nicht mehr geheilt werden kann, dann endet das mit dem Tod. Wenn die psychische Krankheit sich nicht heilen lässt und der psychische Zustand, so wie dies bei meiner Mutter leider der Fall ist, mit den Jahren immer schlechter wird, gibt es keine Erlösung. Man leidet solange, bis das Herz eines Tages aufhört zu schlagen. Und das kann bei meiner Mutter noch sehr, sehr lange dauern, da sie körperlich in einer guten Verfassung ist. Ein furchtbarer Gedanke.
Im Gegensatz zu körperlichen Krankheiten ist die psychische Krankheit nicht von Aussen zu erkennen. Als psychisch kranker Mensch erntet man oft Unverständnis und Misstrauen. Ein Faktor, der das Ganze für die Betroffenen zusätzlich erschwert. „Reiss dich doch endlich mal zusammen“, wie oft meine Mutter diese Aussage wohl schon gehört hat?
Tu dieses, mach jenes, geh spazieren, steh auf; hör auf, dich im Selbstmitleid zu suhlen….Du musst nur wollen, dann geht es auch, usw. Ratschläge, die sicherlich gut gemeint sind, aber es gibt Fälle, da bringen solche Ratschläge rein gar nichts, weil der psychisch kranke Mensch schlicht und einfach dazu nicht in der Lage ist. Auch ich brauchte ziemlich lange, um das zu erkennen.
Einem Krebspatienten würde man so etwas niemals sagen. Mitfühlendes Verständnis und Akzeptanz, das fehlt ganz vielen psychisch kranken Menschen. Psychisch Kranke sind leider ganz oft auf sich selber gestellt. Noch ist die Stigmatisierung von psychischen Krankheiten erheblich und die heutige Gesellschaft ist aus meiner Sicht immer noch meilenweit davon entfernt, diese Tatsache zu ändern.Ich habe gerne Recht, aber hier wäre ich froh, ich würde mit meiner Behauptung falsch liegen.
In meiner Mutter wuchert der Seelenkrebs und hat alles vergiftet. Depressionen verbunden mit schweren Angst- und Zwangsstörungen, die sich in lautem Gebrüll und wehklagen äussern. Sich den Schmerz aus der Seele brüllen – so habe ich zumindest den Eindruck. Das zu sehen und zu hören ist beängstigend. Ich kenne meine Mutter doch schon sehr lange und weiss selbst nicht, wie ich damit umgehen soll. Es schreckt mich ab und daher kann ich sogar nachvollziehen, wie es fremden Bezugspersonen dabei ergehen muss. Meine Mutter ist nicht die alte, nette und liebenswerte Dame von nebenan. Sie ist laut und aggressiv. Verbittert. Eine schwierige Kombination.
Das Schlimmste aber ist: Es gibt keine Chance auf Heilung. KEINE. War sie doch gerade die letzten sechs Wochen in stationärer Behandlung und auch die neuen Psychopharmaka zeigen keinerlei Wirkung. Das Gegenteil ist der Fall. Ihr psychischer Zustand hat sich rapide verschlechtert.
Die Kindheit meiner Mutter war geprägt durch sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung und harter, körperlicher Arbeit. Sie war ein Verdingkind und wer sich mit diesem Thema auskennt, der weiss, dass es sich dabei um ein furchtbar düsteres Stück Schweizer Geschichte handelt. Ganz viele Kinderseelen wurden für immer und ewig aufs Übelste traumatisiert, und die meisten davon, sind nie darüber hinweggekommen.
Meine Mutter wird nun in der Klapse enden. Dieser Ausdruck sei mir hoffentlich verziehen, doch Ironie und Sarkasmus sind in solchen Augenblicken ein probates Mittel, um mit einer belastenden Thematik umzugehen. Das unweigerlich Bevorstehende zu akzeptieren. Als Tochter, als Angehörige. Als Mensch.
Als Kind habe ich mich so oft für meine Eltern geschämt. Für sie und für ihre Krankheit. Rückblickend kommt mir das beinahe schon lächerlich vor. Ich möchte mit diesem Beitrag den Menschen, die ein so schweres Schicksal zu tragen haben und deren Angehörigen ein Gesicht geben. Das Gesicht meiner Mutter.
Ich möchte mich zunächst erst einmal über „Verdingkinder“ informieren.
Danke, dass Du Deine Gedanken und Gefühle mit uns teilst.
Liebe Grüße
Sylvia
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Wer kann schon einem/einer in die Seele schauen? Eine psychische Krankheit is unfassbar und unsichtbar. Auch eine Hörbeeinträchtigung ist meist unsichtbar und unverstanden. Ich wünsche dir viel Mut, Kraft und Akzeptanz. Schön das du so darüber schreiben kannst, und diese Krankheit tatsächlich ein Gesicht geben kannst!
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DANKE!!
Ich finde es wichtig, dass genau Geschichten, wie die deiner Mutter zum Thema gemacht werden! Traurig ist, dass sie nie die Kraft hatte aus dieser Spirale zu kommen, traurig auch, dass sie das Leben einer ganzen Familie damit belastet hat und diese Belastung, die ihr wiederum sicherlich ebenfalls bewusst war, die Spirale nur noch tiefer bohren liess.
Ich wünsche euch allen viel Kraft für diesen letzten Lebensabschnitt, wer weiss, evtl. doch noch Momente der Nähe und Vertrautheit, die alte Wunde vielleicht doch noch heilen lässt.
Ich befasste mich gerade gestern mit der Thematik Seele/Gehirn und habe dazu einen Tipp für einen ganz tollen Vortrag bekommen. Vielleicht interessiert dieser dich auch? Es eröffnete mir neue Erkenntnisse und das Verständnis warum es psychische Probleme gibt, die leichter und schwerer oder eben gar nicht behandelbar sind.
Gerhard Roth: Wie das Gehirn die Seele macht https://youtu.be/wqMIC2QSN10
herzlichst samu
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Liebe Sylvia, wenn du dich für dieses Thema interessiert kann ich dir den Film „Der Verdingbub“ sehr empfehlen. Oder das Buch „Gestohlene Seelen“ von Lotti Wohlwend und Arthur Honegger. Herzlich, Franziska
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Da hast du natürlich Recht. Nicht jede körperliche Krankheit ist von Aussen ersichtlich. Und eine Hörbeeinträchtigung ist für die Betroffenen auch nicht einfach, zu handhaben. Auch dir wünsche ich viel Kraft. Herzlich, Franziska
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Ich werde da bei Gelegenheit mal reinschauen. Vielen Dank für den Link. Herzlich, Franziska
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Danke, den Film besorge ich mir. Zum Lesen habe ich schon so viele Bücher, die noch warten.
Ich wünsche Dir vor allem Kraft, liebe Franziska.
Herzlichst,
Sylvia
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„Die Schwabenkinder“ soll auch ein guter Film sein. Mein Mann hat ihn gesehen
Ein wenig habe ich jetzt darüber gelesen … 😢
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