Vom Leben und Leiden meines Vaters – Teil 3

1966 lernte mein Vater meine Mutter kennen. Im Jahre 1969 haben sie geheiratet. Jahrelang glaubte ich, dass die Beiden sich nur wegen ihrer Schwierigkeiten zusammen taten. Eine Art Zweckgemeinschaft im Sinne von „geteiltes Leid ist halbes Leid“. So war es aber nicht. Eher das Gegenteil war der Fall – statt halbes Leid wurde das Leid verdoppelt.  Zumindest wenn ich die Briefe lese, die mein Vater meiner Mutter geschrieben hat. Briefe voller Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht. Sehnsucht nach einer eigenen Familie, Sehnsucht nach Liebe, Nähe und Geborgenheit. Wer die Geschichte vom Leiden und Leben meiner Mutter gelesen hat, kann sich vermutlich denken, dass meine Mutter die Wünsche meines Vaters nur schwerlich erfüllen konnte.

In einem Brief hat mein Vater geschrieben: „Liebste Elisabeth, warum zweifelst Du derart an meinen Gefühlen? Sei Dir gewiss, das ich bis ans Ende meiner Tage an Deiner Seite bleiben werde.“

Meine Eltern hatten keine leichte Beziehung. Von Anfang an war sie überschattet von seelischen Qualen, Ängsten, Zweifeln und Überforderung. Doch mein Vater hat sein Wort gehalten. Bis heute. In guten und in (sehr, sehr) schlechten Zeiten, bis dass der Tod sie scheidet.

1972 habe ich dann das Licht der Welt erblickt. Zur grossen Freude meines Vaters. Mein Vater hat sich sehnlichst noch weitere Kinder gewünscht. Vor allem einen Jungen, der seinen Namen weiter trägt und weiter geben kann. Das war ihm ganz wichtig. Meine Mutter war jedoch mit mir schon derart überfordert, dass sie keine weiteren Kinder wollte. Dieses Thema hat die Beiden noch jahrelang beschäftigt. Mein Vater konnte die Entscheidung meiner Mutter nicht akzeptieren, obwohl alles andere wider jede Vernunft gewesen wäre.

Mein Vater ist streng katholisch – erzkonservativ-katholisch. Er ging sogar in eine andere Messe als die Übliche. Mit dem modernen Zeugs könne er nichts anfangen, meinte er immer. Das war ihm richtig zuwider. Frauen in der Kirche, die das Evangelium lasen – ein Graus. Mädchen, die ministrieren – total daneben. Handkommunion, nein Danke. Die Messe wurde in Lateinisch gesprochen und nach dem alten römischen Ritus abgehalten. Und es dauerte Stunden. Ich kann ein Liedlein davon singen. Auch ich musste jeden Sonn- und Feiertag in die Kirche. Ausnahmslos. An Weihnachten und Ostern lief im Radio der Segen des Papstes „Urbi et Orbi“. Und zwar in voller Lautstärke.

Mein Vater hatte keine Freunde. Aber er verkehrte mit einer gewissen Regelmässigkeit in seiner Studentenverbindung. Solche Treffen waren ihm wichtig und gaben ihm Kraft. Das Gefühl der Gemeinschaft war ihm wichtig. Und die Gemeinschaft seiner Kirche. Er hat dort mit viel Leidenschaft einen kleinen Chor gegründet und geleitet. Selbst wenn mein Vater unter schwersten Depressionen litt, kann ich mich nicht daran erinnern, dass er je einen Sonntagsgottesdienst verpasst hätte.

Gesundheitlich geht es meinem Vater nicht gut. Vor zwei Jahren musste er wegen des Rauchens seinen Unterschenkel amputieren. Er hat bereits zwei Herzinfarkte erlitten. Wegen der Verengungen der Herzkranzgefässe wurden ihm Stents eingesetzt, auch in der Hauptschlagader. Mein Vater denkt jedoch nicht im Traum daran, mit dem Rauchen aufzuhören. Er ist ein „sturer Bock“. Das sagt er sogar selbst.

Mein Vater wird dieses Jahr 81 Jahre alt. Er lebt zusammen mit meiner Mutter in einer Wohnung im Altersheim. Trotz aller Schwierigkeiten hatte ich immer sehr grossen Respekt vor meinem Vater. In ganz stürmischen Zeiten war er mein Fels in der Brandung. Wenn ich ihn heute sehe, kommt er mir vor wie ein verkümmerter, ungegossener Baum.

Ausser zu den Mahlzeiten und zu Arztbesuchen verlässt mein Vater die Wohnung nicht mehr. Nur mittwochs gibt es eine Ausnahme. Dann wird im Altersheim die katholische Messe gefeiert.

Durch die Krankheit meines Vaters bin ich ihm näher gekommen. Ich höre ihm zu, wenn er aus seinem Leben erzählt und bin froh, so noch einiges über seine Vorfahren und über sein Leben erfahren zu dürfen. Früher haben mich diese Geschichten nämlich nicht sonderlich interessiert. Heute bereue ich das. Denn es ist ja auch meine Geschichte, oder zumindest ein Teil davon. Ich hoffe, wir haben noch etwas mehr Zeit miteinander, bevor ihn der liebe Gott zu sich holt. Das wünscht er sich nämlich aus tiefstem Herzen.

Wenn es eines Tages soweit sein wird und er sterben wird, werde ich unsagbar traurig sein. Doch ich hoffe und bete, dass er am Ort seiner lebenslangen Sehnsucht, endlich seinen Frieden findet.

Ich liebe Dich, Papa.

Link zum 1. Teil https://gygyblog.com/2015/05/20/vom-leben-und-leiden-meines-vaters-teil-1/

Link zum 2. Teil https://gygyblog.com/2015/05/26/vom-leben-und-leiden-meines-vaters-teil-2/

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

3 Kommentare zu „Vom Leben und Leiden meines Vaters – Teil 3

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