Wie ging es nach dem Selbstmord meines Grossvaters weiter? Mein Vater war kein unbeschwertes und fröhliches Kind. Er war still und in sich gekehrt. Ein Einzelgänger, dem es schwer fiel, mit Anderen Freundschaften zu knüpfen. Sich auf andere Menschen einlassen, konnte er nur mit grosser Anstrengung und innerer Überwindung.
Nach der Ausbildung zur Sekretärin hat meine Grossmutter schnell eine gute Arbeitsstelle gefunden. Der 2. Weltkrieg war zu Ende und wirtschaftlich ging es endlich wieder aufwärts.
Mit zwölf Jahren kam mein Vater ins Klosterinternat in Disentis und absolvierte dort das Gymnasium. Das ist kein Zufall, denn mein Vater hat schon als kleiner Junge Trost bei Gott gesucht und auch gefunden. Kein Wunder, denn meine Grossmutter war eine streng gläubige Katholikin. Im Internat in Disentis hat mein Vater sich sehr wohl gefühlt. Er fand dort bei den Mönchen Ruhe und Geborgenheit. Auch heute noch strahlt mein Vater übers ganze Gesicht, wenn er von dieser Zeit im Internat erzählt.
Doch all diese Erlebnisse haben Spuren hinterlassen. Mein Vater war kein unbeschwertes und fröhliches Kind. Er war still und in sich gekehrt. Ein Einzelgänger, dem es schwer fiel, mit anderen Freundschaften zu knüpfen. Sich auf andere Menschen einlassen, konnte er nur mit grosser Anstrengung und innerer Überwindung. Nur zu seiner Mutter pflegte er über all die Jahre ein sehr enges und inniges Verhältnis.
Die Zeit im Klosterinternat und die dort empfundene und gelebte Nähe zu Gott haben meinen Vater stark geprägt. Nach dem Abitur wollte mein Vater Mönch werden. Dafür muss man jedoch zuerst einmal auf Probezeit im Kloster leben, um sich auf das Leben als Mönch im Kloster vorzubereiten. Erst danach legt man ein Gelübde ab. Ich habe beim Räumen der Wohnung meiner Eltern viele Briefe gefunden. Seine Mutter und er hatten in dieser Zeit regen Schriftverkehr. Schnell wurde daraus ersichtlich, dass meinem Vater dieses Leben im Kloster nicht so leicht fiel, wie er er es für sich erhofft hatte. Plötzlich litt er unter der Stille und der Einsamkeit. Er fand im Gebet keine Erfüllung mehr und der Ruf nach dem Leben ausserhalb der Klostermauern wurde immer lauter. Er wollte zurück ins richtige Leben, doch meine Grossmutter fand, dass er zu schnell aufgebe. Die Briefe an seine Mutter sind voller Versagensängste und Selbstzweifel. Er ist innerlich zerrissen zwischen seinem starken Glauben an Gott, dem Wunsche seiner Mutter und der Erkenntnis, dass dieser Weg nicht für ihn bestimmt ist.
Die Zweifel, Ängste und die innere Zerrissenheit haben meinen Vater ein Leben lang begleitet. Und belastet.
Der Weg zurück ins normale Leben fiel ihm sichtlich schwer. Er studierte Jura an der Universität in Fribourg. Das Studium musste er mehrfach unterbrechen, weil er unter sehr schweren Depressionen litt. Sein Jurastudium hat er mit „Summa cum laude“ abgeschlossen. Ich erwähne dies deshalb, weil es ja nun eigentlich logisch wäre, dass mein Vater danach den Doktortitel gemacht hätte. Eine gute Bildung war für ihn schon immer das „A + O“. Das musste ich mir oft genug anhören. Das Schreiben der Dissertation fiel ihm wegen der immer wiederkehrenden Depressionen so schwer, dass er abbrechen musste. Mein Vater erklärte mir dies einmal so: „Je mehr er etwas wolle und sich wünsche, desto stärker sei er innerlich blockiert“.
Mein Vater ist ein sehr intelligenter und gebildeter Mann. Ein wandelndes Lexikon. Ich war immer sehr stolz auf ihn und habe ihn dafür bewundert. Es gab und gibt keine Frage, die er nicht beantworten kann. Und trotzdem…Den Gang zum Psychiater oder zu jemanden, der ihm vielleicht hätte helfen können, hat er kategorisch abgelehnt. Leider ist es tatsächlich so, dass Depressive oft das Äusserste tun, um das Innerste zu vernachlässigen (P. Dold).
Mein Vater hat schon immer leidenschaftlich gerne gelesen. Und zwar alles, was ihm zwischen die Finger kam. Er besass hunderte von Büchern und es gab in seinen Büchergestellen kein Einziges, das er nicht gelesen hätte. Beim Räumen der Wohnung konnte er zu jedem Schnipsel Papier eine Geschichte erzählen. Sehr beeindruckend.
Meine Grossmutter sagte einmal zu meiner Mutter: „Bei Carl wird jede horizontale Fläche mit Papier belegt“. Und sie hatte Recht. Er hatte so viele Zeitungen & Zeitschriften abonniert, dass er mit Lesen gar nicht mehr hinterher kam. Und immer wieder die depressiven Phasen, in denen es ihm unmöglich war, irgendetwas zu erledigen. Auch die Post. Und so sammelten sich im Laufe der Jahre Berge von Papier an…Papierberge soweit das Auge reichte.
Fortsetzung folgt…
Link zum 1. Teil vom Leben und Leiden meines Vaters https://gygyblog.com/2015/05/20/vom-leben-und-leiden-meines-vaters-teil-1/
3 Kommentare zu „Vom Leben und Leiden meines Vaters – Teil 2“