Geschichten meiner Kindheit – Ich, das Heim- und Pflegekind Teil 2

In der Primarschule war ich eine Aussenseiterin. Ich war unbeliebt. Ungeliebt? Ich vermute, es lag daran, dass Begriffe wie „Pflegekind“ oder „Heimkind“ in der Gesellschaft negativ behaftet sind. Wenn ein Mensch erzählt, dass er die Kindheit in einem Kinderheim oder in einer Pflegefamilie verbracht hat, dann sagt er gleichzeitig, dass in der Kindheit irgendetwas schief gelaufen ist. Dabei kann es auch eine Chance sein. So wie in meinem Fall. Ich stehe mitten im Leben und es geht mir gut.

Ich finde, es ist an der Zeit, dass diese Begriffe entstigmatisiert werden…

Ich hatte nun also eine Pflegefamilie – eine Pflegemutter, einen Pflegevater und deren leibliche Tochter, die zwei Jahre älter war als ich. Ich war gerne dort. Das Problem ist, dass man als Kind nicht freiwillig von den Eltern getrennt lebt. Viele Kinder werden zu Pflegekindern weil sie Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und vieles mehr erlebt haben. Oder es gibt andere Gründe, wie Eltern, denen es aus beruflichen Gründen nicht möglich ist, sich um ihre Kinder zu kümmern.

An die ersten beiden Jahre bei meiner Pflegefamilie habe ich keine detaillierten Erinnerungen. An den Wochenenden durfte ich meistens zu meinen Eltern nach Hause. Ich denke jedoch, dass in den ersten Monaten das Aufbauen von Beziehung und Vertrauen seine Zeit in Anspruch genommen hat. Dies ist nämlich eine sehr wichtige Phase, die von allen Beteiligten viel fordert: von den Pflegekindern, von deren leiblichen Eltern, von den Pflegeeltern und deren leiblichen Kindern. Es dauerte ein Weilchen bis ich begriffen hatte, dass dies ein Ort war, an dem ich bleiben konnte.

Zwischen vier und sechs Jahren war ich phasenweise wieder bei meinen Eltern daheim. An diese Zeit habe ich keinerlei Erinnerungen. Während dessen haben meine Pflegeeltern ein weiteres Kind in Pflege genommen, bis sie erfahren haben, dass mein Vater für mich einen Platz in einem Kinderheim suchte. Ein Indiz dafür, dass es Zuhause nicht funktioniert hat. Meine Pflegeeltern haben mich dann erneut bei sich aufgenommen.

Das neue Pflegekind war ein Mädchen. Sie war im gleichen Alter wie ich. Wir waren von nun an nicht nur Pflegeschwestern sondern auch beste Freundinnen. Kurz darauf kam ihre Schwester ebenfalls zur Pflegefamilie. Sie war damals noch ein Baby.

Ich hatte also innert kürzester Zeit drei Pflegeschwestern. Zu Sechst lebten wir in einer kleinen 3-Zimmer-Wohnung. Platz war Mangelware, Privatsphäre ein Fremdwort. Als Kind hat mich das nicht gestört.

Von meinem Pflegevater kann ich nicht allzu viel berichten, denn in meiner Erinnerung war er nicht besonders oft anwesend. Die Erziehung der Kinder hat mehr oder weniger meine Pflegemutter übernommen. Heute habe ich selber drei Kinder und ich weiss, wie anstrengend das sein kann. Meine Pflegemutter hatte eine leibliche Tochter und drei Pflegekinder, eines davon war sogar noch ein Baby. Die Aufnahme eines Pflegekindes ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Meine Pflegeeltern hatten drei davon. Das ein Pflegeverhältnis gelingen kann, ist keine einfache Sache. Für alle Beteiligten. Denn die Pflegekinder bringen bereits eine Geschichte mit, sind oft belastet und traumatisiert.

Als ich noch das einzige Pflegekind war, war ich auf die leibliche Tochter manchmal ziemlich eifersüchtig, weil meine Pflegemutter ihre Mutter war und nicht meine. Meine Pflegemutter erzählte mir einmal, dass ich ihr eines Tages gesagt habe, dass ich mir wünschte, dass meine Pflegeschwester tot sei, damit sie dann meine Mama sein könne. Ich hatte eine unbändige Sehnsucht, mich zugehörig zu fühlen. Trotz dieser Geschichte ist es mir emotional nicht gelungen, eine tiefe Bindung zu meinen Pflegeeltern aufzubauen. Denn als Kind hatte ich mit Bindungen bislang keine allzu guten Erfahrungen gemacht und wurde schon mehrfach verletzt. Die Beziehung zu meinen Pflegeeltern kann ich im Nachhinein am ehesten so umschreiben: wohlwollend und unterstützend.

Meine Pflegemutter hatte mich gern. Aber als Kind spürte ich, dass sie ihre Tochter mehr liebte als mich. Aus heutiger Sicht finde ich das völlig in Ordnung und absolut verständlich, aber als Kind hatte ich darunter gelitten. Als die anderen beiden Pflegekinder dazu kamen, hatte sich dieses Gefühl in mir drin noch verstärkt. Ich fühlte mich immer wie das letzte Rad am Wagen. Ich gehörte dazu und irgendwie doch nicht. War weder Fisch noch Vogel. Das letzte Glied einer Kette, die leicht zu zerreissen war. Heute weiss ich, dass diese Selbstwertproblematik für die meisten Pflegekinder typisch ist. Wie soll man ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln, wenn man von Geburt an kein Gefühl für die eigenen Werte mit auf den Weg bekommen hat?

Ich habe mir immer gewünscht, endlich wieder zu meinen Eltern nach Hause zu können. Obwohl ich genau wusste, dass die Zustände dort unerträglich waren. Dennoch war dieser Wunsch zeitweise übermächtig. In mir schlummerte die Hoffnung, dass meine Eltern eines Tages psychisch völlig gesund werden und ich wie ein normales Kind bei ihnen aufwachsen kann. Definitiv eine Illusion.

Als Pflegekind ist man immer Kind zweier Familien. Das war auch für mich nicht einfach. Loyalitätskonflikte und Schuldgefühle waren immer wieder einmal meine Begleiter. Meine Mutter hatte oft telefonischen Kontakt mit meiner Pflegemutter. In diesen Gesprächen ging es hauptsächlich darum, wie schlecht es meiner Mutter ging. Meine Pflegemutter war eine aufmerksame, aber auch kritische Zuhörerin, die nicht immer das gesagt hat, was meine Mutter gern gehört hätte. Wenn ich an den Wochenenden bei meinen Eltern war, hat meine Mutter oft schlecht über meine Pflegefamilie gesprochen. Meine Mutter war bestimmt eifersüchtig und hatte aufgrund ihrer eigenen Prägung Mühe mit der heilen Welt der Pflegefamilie.

Im Laufe der Jahre hat sich das Verhältnis zwischen meiner Mutter und meiner Pflegemutter verschlechtert. Als sensibles Kind habe ich das gemerkt. Eigentlich wollte ich beide Seiten gerne haben, aber das war mir so nicht möglich. Ich habe unter dieser Rivalität seitens meiner Mutter ziemlich gelitten. Dieser Loyalitätskonflikt ist ebenfalls typisch für viele Pflegekinder.

Eines Tages kam es zwischen meiner Mutter und meiner Pflegemutter zum Eklat. Ein Wort gab das Andere mit dem Resultat, dass ich nicht länger in der Pflegefamilie bleiben konnte.

Als Erwachsene verstehe ich gut, dass die Unvernunft und die Schwächen meiner Mutter für meine Pflegemutter schwer zu handhaben waren. Meine Pflegemutter glaubte daran, dass meine Mutter nach all den Jahren in der Lage war, sich um mich zu kümmern. Ich war ja kein Kleinkind mehr, sondern schon elf Jahre alt. Psychisch kranke Menschen kann man nicht zu ihrem Glück zwingen. Meine Eltern haben es bis dato nie geschafft, ihre Elternrolle zu erfüllen. Mein Alter hat dabei keine Rolle gespielt.

Ich lebte dann für ein Jahr bei meinen Eltern. Eigentlich war es ja das, was ich mir immer gewünscht hatte. Nur das in meinen Träumen und Wünschen meine Eltern psychisch gesund waren und ihre Rolle als Eltern erfüllen konnten. Das war in der Realität jedoch so gar nicht der Fall. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schwer alkoholabhängig und neigte im Rausch zu körperlicher Gewalt, die ich immer wieder zu spüren bekam. Dieses eine Jahr bei meinen Eltern Zuhause war für mich die Hölle auf Erden.

Danach hatte ich für längere Zeit keinen Kontakt mehr zu meiner Pflegefamilie. Nur in der Schule sah ich meine Pflegegeschwister. Meine Erinnerungen daran sind verschwommen. Mein Fokus lag auf meinem psychisch kranken Eltern und wie ich da jemals wieder heil rauskomme.

Als ich zwölf Jahre alt war, kam ich nach einem Darmverschluss (ohne Operation stirbt man daran, aber in meinem Fall war es ein Glückstreffer, ein Sechser im Lotto, lebensrettend) in ein Sanatorium. Danach ins Internat. Von da an verlief mein Leben in geregelten Bahnen. An die Zeit im Internat habe ich die allerbesten Erinnerungen.

Mit der gleichaltrigen Pflegeschwester pflegte ich während der Pubertät und der Zeit im Internet immer eine Freundschaft. Wir sahen uns immer wieder mal, wenn ich in Zürich in den Ferien war.

Der Kontakt zu meinen anderen beiden Pflegeschwestern wuchs erst wieder, als ich die Schule mit 19 Jahren abschloss und zurück nach Zürich kam.

Heute verbindet mich mit meinen Pflegeschwestern ein enges Band aus Liebe, Freundschaft, Respekt und Wertschätzung. Wir alle hatten unsere Kämpfe zu kämpfen, manchmal gemeinsam und jede für sich. Ich glaube, sagen zu dürfen, wir sind daran gewachsen. Zusammengewachsen.

Ich habe drei Kinder und jede Pflegeschwester ist von einem Kind die Patin. Wir sehen uns nicht wöchentlich, aber immer wieder. Sicher dann, wenn eines meiner Kinder Geburtstag feiert. Und zu Weihnachten – Sisters and Friends.

Es sind Momente, die ich für nichts auf der Welt missen möchte. Meine drei Pflegegeschwister sind für mich Familie. Nicht im Blut, aber im Herzen. Schwestern.

 

Für Interessierte – Hier geht’s zum ersten Teil.

 

 

 

 

 

 

 

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

8 Kommentare zu „Geschichten meiner Kindheit – Ich, das Heim- und Pflegekind Teil 2

  1. „Psychisch kranke Menschen nicht man nicht zu ihrem Glück zwingen.“ – Du meintest sich KANN man nicht zu ihrem Glück zwingen?

    Franziska, Du bist solch eine bemerkenswerte Person. Ich sitze hier mit Tränen in den Augen. Da sind Betroffenheit, Traurigkeit und – ja, auch Empathie für die kleine und auch die große Franziska. Doch das kleine Mädchen, das würde ich zu gern in die Hand nehmen und begleiten – zu spät?
    Nie ist es zu spät, sagt man. Doch, für manche Dinge ist es zu spät – sage ich.
    Doch, und das weißt Du am allerbesten, für was es niemals zu spät ist, ist die Aufarbeitung, das Festhalten an den guten Dingen (Sisters and Friends), an dem bisschen Liebe, welches dem kleinen Mädchen zuteil wurde.
    Ich nenne sie gern die kleinen Helferchen (in meinem Fall die Deutschlehrerin, meine Stiefoma für zu kurze Zeit oder meine Tante) – es sind die kleinen Wunder.

    Innigst
    Sylvia

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  2. Liebe Sylvia, gerade habe ich mit Schrecken festgestellt, dass ich meine Antwort an dich noch gar nicht abgeschickt habe:
    Vielen Dank für deine lieben Worte und deine wahre Anteilnahme an meinen Geschichten. Geschichten, die das Leben schrieb. Die kleinen Helferchen, wie du sie nennst, sind grosse und wichtige Ressourcen im Leben von Menschen, mit denen es das Schicksal nicht immer gut gemeint hat. Für die Bildung der psychischen Widerstandskraft sind sie ungemein wichtig und notwendig. Es ist nie zu spät, finde ich. Wir haben jeden Tag die Möglichkeit, zu wählen. Uns zu entscheiden. Vorwärtszugegen oder im Stillstand zu verharren. Manchmal braucht es Menschen, die einem an der Hand nehmen und uns ein Stück des Wegs begleiten. Und sei es „nur“ in Gedanken. Herzlich, Franziska

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  3. Liebe Franziska,

    vielleicht klingt es etwas negativ, wenn ich sage: Ich bin es gewöhnt, dass bei Kommentaren kein Feedback kommt. Irgendwann lässt man es dann.
    Aber das ist bei Dir ja nicht der Fall :-).

    Oh ja, wir haben jeden Tag die Möglichkeit, zu wählen – das hast Du wieder treffend beschrieben.
    Es ist eine unglaubliche Stärke, dass wir einen solchen Weg gehen, obgleich unsere Begleitung in Kindheit und Jugend recht dürftig ausfiel.
    DAS sind wirklich starke Menschen!

    Herzliche Grüße

    Sylvia

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  4. Deine Antworten finde ich sehr spannend.Für die Nominierung danke ich dir herzlich. Fühle mich also geehrt und habe mich doch entschieden, abzulehnen. Im Moment ist Zeit leider Mangelware. Obwohl ich deine Fragen wirklich gut finde. Alles Liebe, Franziska

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