Ob ich an Wunder glaube? Ja, das tue ich definitiv. Auch wenn es in diesem Fall wohl mehr ein Wunder der Medizin respektive der Psychopharmaka ist. Aber egal, völlig egal…
Sie liegt auf ihrem Bett und weint. Alt, zerbrechlich, einsam. Sie hat Tränen in den Augen. Sie wolle sterben, sagt sie. Es gehe ihr so schlecht, sagt sie. Sie wolle nicht mehr leben, sagt sie.
Sie – meine Mutter. Es ist der vierte Aufenthalt in der Psychiatrie alleine in diesem Jahr. Meine Mutter war in diesem Jahr in einem absolut desolaten Zustand, anders kann ich es leider nicht formulieren. 2016 war und ist kein leichtes Jahr.
Auch ich habe Tränen in den Augen. Es ist erst ein Monat vergangen, seit wir beide ein und denselben Menschen verloren haben. Meine Mutter ihren Ehemann und ich meinen geliebten Vater.
Doch in diesem Augenblick bin ich nicht einfach nur traurig. Ich sitze an ihrem Bett und ich spüre auch noch ein anderes Gefühl. Freude? Ist es tatsächlich Freude? Es ist mehr, viel mehr – Freude und Erleichterung.
Denn Trauer und Verzweiflung sind Gefühle, die ehrlich sind. Und Tränen sind ein echter und wahrhaftiger Ausdruck für das, was man in seinem Innersten empfindet. Endlich ist meine Mutter wieder in der Lage, ihren Schmerz und ihren Kummer in Worte zu fassen und zu zeigen.
Wenn man nicht in der Lage ist, seine Gefühle zuzulassen, dann suchen sie sich nämlich ein anderes Ventil, weil der Mensch sonst daran zerbricht. Irreparabel kaputt geht. Gefühle machen vielen Menschen Angst. Viele von uns sind stets bemüht, sich in dieser Hinsicht keine Blösse zu geben. Gefühlsausbrüche sind unangenehm und wir versuchen, sie tunlichst zu vermeiden oder zu unterdrücken. Dabei liegt in unseren Gefühlen soviel Kraft und Potential, wenn wir sie zulassen und darauf vertrauen, dass wir ihre Energien auch positiv nutzen können.
Meine Mutter ist noch immer sehr unruhig und getrieben. Sie kann keine fünf Minuten liegen bleiben, dann will sie wieder einen Zigarette rauchen. Oder im Flur auf und ab laufen. Oder sich im Aufenthaltsraum hinsetzen, um diesen dann nach einer Minute wieder zu verlassen. Sich ins Bett zu legen. Zu weinen. Und dann alles wieder von Vorne. Ich trotte hinter ihr her. Ja, meine Mutter ist in ihrem ganz eigenen Film, aber ich spüre, dass sie weiss, dass ich da bin. Sie weiss, wer ich bin und wo sie ist. Und sie spricht. Es sind traurige Worte voller Kummer und Verzweiflung, die aber einen Sinn ergeben. Worte, die ich verstehen und nachvollziehen kann.
Als ich die Psychiatrische Uniklinik verlasse, muss ich zuerst einmal tief seufzen. Es ist ein Seufzer der Erleichterung und der Hoffnung.
Hoffnung darauf, dass es so bleibt. Ein Minimum an Selbstbestimmung und Würde, das sollte, das muss jedem Menschen zustehen, und doch ist es leider nicht immer möglich. Selbstbestimmung und Würde, das sind zwei wichtige Dinge im Leben eines jeden Menschen, die für meine Mutter in diesem Jahr in weite Ferne gerückt sind. Und jetzt gibt es da einen Silberstreif am Horizont, ein winzig kleines Licht am Ende eines langen und dunklen Tunnels.
Ja, ich glaube an Wunder. Und ihr, liebe Leserinnen und Leser?
Und immer wieder bewundere ich Deine Kraft, Franziska!
Herzlichst,
Sylvia
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Liebe Sylvia, schön von dir zu hören, äh zu lesen 🙂 und danke für deine lieben Worte. Herzlich, Franziska
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Deine anderen Beiträge habe ich auch gelesen – nur fehlte mir auf Grund eigener persönlicher „Befindlichkeiten“ die Kraft für einen (sinnvollen) Kommentar. Auch diesmal wollte ich überlegen und überlegen.
Ich denke, es ist besser, wenn man gerade heraus schreibt: Das, was man denkt – was sonst könnte sinnvoll sein ….
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Da hast du Recht. Ich schreibe auch nur, wenn es mir leicht von der Hand geht. Herzlich, Franziska
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