Ein Gefühl gehört zu einem Augenblick. Ein Augenblick, der vorüber geht. Und so nie mehr wiederkehrt. Was bleibt, ist die Erinnerung.
Letzten Donnerstag wurde mein 9jähriger Sohn zum ersten Mal in seinem Leben operiert. Es handelte sich dabei um einen unkomplizierten Eingriff, der ambulant durchgeführt werden konnte. Der Eingriff musste jedoch unter Narkose erfolgen.
Es war eine Premiere für ihn, aber auch für mich, denn bisher musste sich noch keines meiner drei Kinder einer Operation unterziehen.
Vorweg möchte ich festhalten, dass die Operation gut verlief und wir 12 Stunden nach Betreten des Kinderspitals dieses auch wieder verlassen konnten. Mein Sohn war bereits am darauf folgenden Tag wieder fit und draussen mit Freunden am Spielen.
Als Kind wurde ich insgesamt drei Mal unter Vollnarkose operiert. Ich empfand das als total spannend und kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals Angst hatte. Persönlich kenne ich Gott sei Dank niemanden, bei dem während einer Operation Komplikationen aufgetreten sind.
Mit dieser Erfahrung im Gepäck sah ich diesem speziellen Tag also recht gelassen entgegen, obwohl mir ebenso folgende Tatsachen bekannt waren:
- Eine Anästhesie ist bei Kindern besonders komplex ist, denn ihre Stimmritze und auch die Schleimhäute können rasch anschwellen, was zu Sauerstoffmangel führen kann.
- Die Narkose ist ein künstlicher Tiefschlaf, bei alle Sinne des Patienten vollständig ausgeschaltet sind. Eine Narkose ist jedoch trotz aller Routine nicht zu unterschätzen. In Deutschland werden jährlich etwas zehn Millionen Operationen mit Narkose durchgeführt. Davon sterben rund 43’000 Menschen unter Narkose. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder dieser Menschen auch an der Narkose gestorben ist.
- Jede Narkose ist ein medizinscher Eingriff und dadurch mit Risiken verbunden.
- In der Broschüre des Kinderspitals steht, dass die psychische Belastung für die Eltern beim Einleiten der Narkose sowie beim Abschied des schlafenden Kindes nicht zu unterschätzen sei.
Dem letzten Punkt habe ich definitiv zu wenig Beachtung geschenkt.
Ich habe mir bereits vor ein paar Tagen vorgenommen, über diesen speziellen Tag zu bloggen und habe, ganz old school, Papier und Stift mitgenommen. Immer wieder habe ich im Laufe des ambulanten Aufenthalts meines Sohnes aufgeschrieben, was mir so durch den Kopf ging.
Hier ein paar ungefilterte Momentaufnahmen….
Natürlich waren wir viel zu früh da. Ich neige bei wichtigen Terminen dazu, oberpünktlich zu sein. Vor allem da ich bereits mehrfach die Erfahrung gemacht habe, dass ein Spital mit seinen vielen Gängen ein wahres Labyrinth sein kann. Wir haben aber Glück. Das Zimmer der chirurgischen Tagesklinik ist ganz einfach zu finden.
Wir betreten das Zimmer. Es befinden sich fünf Betten darin. Eines ist bereits besetzt. Ein etwa sechsjähriges Mädchen liegt darauf und kichert unaufhörlich vor sich hin. Ich wundere mich, was denn mit diesem Mädchen los ist. Das Mädchen hat bereits den Sirup getrunken, den die Kinder zur Beruhigung bekommen und durch den sie im besten Fall schon etwas müde werden. Es kann die Kinder aber auch sehr unruhig machen.
Die Mutter schaut mich schüchtern an, so als wolle sie sich für das Verhalten ihrer Tochter entschuldigen. Die Situation macht ihr zu schaffen. Als das Mädchen dann Richtung Operationssaal geschoben wird, fängt sie an zu weinen und zu schreien. Sie windet sich im Bett hin und her und lässt sich nicht beruhigen.
Es wird wieder still. Mein Sohn und ich bleiben alleine im Zimmer zurück. Ich bin etwas verwirrt. Hoffentlich reagiert mein Sohn nicht ebenso heftig auf diesen Beruhigungssirup. Ein etwas mulmiges Gefühl hat sich in mir breit gemacht. Ich kenne es, es fühlt sich so an, wie wenn ich kurz davor bin, ein Flugzeug zu besteigen.
Noch eine knappe Stunde bis zur geplanten Operation. Wir vertreiben uns die Zeit mit einem Kartenspiel.
Es ist 11:30 Uhr. Jetzt bekommt mein Sohn diesen Sirup. Hoffentlich verträgt er das Zeug gut. Er bleibt jedoch ganz der Alte. Er meint, dass er ein klein wenig müde sei. „Aber nur ein bisschen, Mama.“
Es geht los. Ich helfe mit, meinen Sohn Richtung Operationssaal zu schieben. In mir kommt Nervosität auf. Er plaudert dabei, noch sehr munter, wie mir scheint, über seine kleine Katze. Wir betreten den Operationstrakt. Das Gefühl von Enge auf meiner Brust verstärkt sich.
„Was, wenn er nicht mehr aufwacht? Wenn es doch Komplikationen gibt?“ Nicht auszudenken.
Im Vorraum des Operationssaals darf er sich auf eine vorgewärmte Matte legen. Das scheint ihm zu gefallen. Er lächelt selig. Und plötzlich sehe ich 100 Bilder von ihm. Unvergessliche Augenblicke seiner bisherigen Kindheit. Ich fühl’ mich ihm so nahe wie im Moment seiner Geburt. Als ich ihn zum ersten Mal in den Armen halten durfte.
Wie er da so liegt, eingewickelt in die grünen OP Tücher – er wirkt plötzlich so klein und zerbrechlich und ich möchte ihn einfach nur in meinen Armen halten und beschützen. Doch es liegt jetzt nicht in meiner Hand. Ich fühle mich hilflos. Die Krankenschwester hält ihm die Atemmaske mit Narkosegas auf Mund und Nase. Er atmet ein, er atmet aus. Nochmal. Plötzlich zuckt er unkontrolliert mit den Beinen. Das sei völlig normal, versichert mir der Arzt. Mein Sohn verdreht die Augen. Dann fallen die Lider zu. Keine Zuckungen mehr. Nun ist er im Land der Träume. Weit weg von mir und vom Rest der Welt.
Ich küsse seine Stirn und verlasse den Operationstrakt. Ich bete zu Gott – das hat noch nie geschadet. Mein Mutterherz blutet. Der Druck auf meiner Brust hat sich verstärkt. Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Jetzt einfach nicht losheulen. Das Atmen fällt mir schwer. Ich atme tief ein und aus. Das hilft.
Jetzt beginnt die Warterei. Die Operation dauert zirka eine Stunde. Ich bin angespannt. Eine gefühlte Ewigkeit. Sekunden werden zu Minuten, Minuten zu Stunden. In dieser Stunde sehe ich Kinder mit ihren Müttern und/oder Vätern an mir vorbei spazieren. Einige Kinder sitzen im Rollstuhl. Andere tragen einen Mundschutz und haben statt Haare ein Tuch um den Kopf gewickelt. Ich vermute Krebs. Wiederum Andere halten sich an ihrem Infusionsständer fest. Wie hart das Leben doch sein kann. Wie grausam das Schicksal. Schon wieder schiessen mir Tränen in die Augen – dieses Mal jedoch nicht wegen meines Sohnes.
Dann endlich der erlösende Anruf. Alles ist gut gegangen. Ich darf zu meinem Sohn in den Aufwachraum, wo er noch immer schläft. Er sieht friedlich aus. Er atmet regelmässig. Ich spüre eine Welle der Erleichterung.
Zwei Dinge sind mir an diesem Tag einmal mehr vor Augen geführt worden (und ja, ich finde, man kann es nicht oft genug betonen):
– Gesundheit geht über alles!
– Es gibt Familien, die solche Situationen immer wieder erleben, da sie ein Kind haben, das schwer krank, verletzt oder behindert ist und ihre volle Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigt. Ich bewundere diese Familien für ihre Kraft, die sie Tag für Tag aufbringen, um die schweren Zeiten zu überstehen. Ihnen gilt mein tiefster Respekt.
Was ich in diesen zwölf Stunden im Kinderspital erlebt und gefühlt habe, ist nicht annähernd mit dem zu vergleichen, was Sturmfamilien Tag für Tag durchleben müssen. Trotzdem muss ich gerade heute ganz oft daran denken. Was für mich rückblickend nichts weiter als eine Erinnerung ist, das ist für andere Familien Alltag. Eine Achterbahn an Gefühlen.
Um solche Sturmfamilien zu entlasten, gibt es in der Schweiz beispielsweise den Verein Sternentaler. Sternentaler möchte diesen Sturmfamilien Tapetenwechsel und Erholung ermöglichen, welche sie zwischendurch so dringend nötig haben. Es braucht nämlich gar nicht so viel, um diesen Familien zu helfen. Eine Karte oder einen Brief schreiben oder einfach mal einen Kuchen backen Wer mehr darüber erfahren will, kann sich hier informieren.
Quelle: http://www.welt.de/wissenschaft/article12338783/Zehntausende-sterben-waehrend-der-Narkose.html