Getrieben – Keine Ruhe vor sich selbst

Gestern war wieder einmal einer dieser Tage. Vielleicht liegt’s am Wetter, vielleicht am Monat Januar, vielleicht an meiner Geschichte. Ich fühlte mich müde, unmotiviert und niedergeschlagen. Ja, es gibt solche Tage…

Ich musste „einrücken“. So nenne ich die Besuche bei meinen Eltern im Altersheim. Einrücken in feindliches Gebiet. Es ist unerfreulich und doch passt dieser Vergleich recht gut.

Einkaufen, Post sortieren, Papier entsorgen. Eine Menge Papier, denn auch jetzt noch sammelt mein Vater jedes noch so kleine Zettelchen und jeden verdammten Schnipsel. Nach drei Jahren Altersheim ist auch dort wieder jede horizontale Fläche mit Papier und Zeitungen zugekleistert. Gestern musste ich allerdings in diesen Papierstapeln nach Belegen für die Steuererklärung suchen. Nicht lustig. Gar nicht lustig.

Und im Zimmer nebenan liegt meine Mutter. Sie schreit. Verfällt von lautem Schreien in leises Jammern, wimmern und stöhnen. Ihre Unruhe, ihr Leid, ihre Qualen sind sogar durch die Mauern spürbar. Sie erdrücken mich, legen sich schwer auf meine Brust und ein mir bekanntes Gefühl der Enge macht sich in meinem Innern breit. Und ich spüre ein weiteres Gefühl – Mitleid.

Auch meine Mutter muss einrücken. Es ist mal wieder soweit. Ein Aufenthalt in der Alterspsychiatrie steht ihr bevor. Ich mache mir da keine Illusionen. Meine Mutter wird dort solange bleiben, bis sie medikamentös wieder „optimal“ eingestellt ist und sie ihre stark ausgeprägte Aggressivität in den Griff bekommt. Keine Heilung, keine Erlösung, dafür noch mehr Neuroleptika und Benzodiazepine.

Das Hauptaugenmerk liegt nicht auf der Fürsorge oder der liebevollen Zuwendung, denn mit alten psychisch kranken Menschen ist das System überfordert. Es ist nicht so, dass ich es nicht verstehen kann. Gerade als betroffene Angehörige kann ich durchaus ein hohes Mass an Verständnis aufbringen. Alte psychisch kranke Menschen sind anstrengend und man ist im Umgang mit ihnen stark gefordert. Und ohne entsprechend fachliches Wissen auch überfordert.

Meine Mutter ist eine Getriebene. Sie schreit, sie läuft ziellos auf den Fluren des Altersheims umher, ihr Gesichtsausdruck ist dabei angst- und panikerfüllt. Sie geht alle fünf Minuten auf Toilette – ein weiteres zwanghaftes Verhalten. Sie schlingt ihr Essen herunter, so dass sie beinahe daran zu ersticken droht. Meine Mutter findet keine Ruhe, keine Ruhe vor sich selbst. Ihr Inneres ist ihr ärgster Feind und es gibt kein Entkommen.

Dann wiederum liegt sie apathisch im Bett. Ist ganz in sich gekehrt und ruhig. Zumindest wirkt es so. Doch die innere Unruhe löst nicht nur hektische Betriebssamkeit aus, sondern auch Aggressivität. Die blauen Flecken auf den Armen meines Vaters sprechen für sich. Neuerdings verhält sie sich auch gegenüber dem Pflegepersonal impulsiv und aggressiv. Das sind neue Aspekte und es besteht Fremdgefährdung.

Alte Menschen sind fragil, erst Recht, wenn sie psychisch krank sind. Viele leben isoliert und zu den psychischen Problemen gesellen sich im Laufe der Zeit auch noch die körperlichen Gebrechen.

Leider ist es immer noch so, dass viele Fachleute der Meinung sind, dass eine Psychotherapie im Alter nicht mehr lohnenswert sei. Die Verhaltensmuster seien zu tiefsitzend oder eine Therapie sei aufgrund des nahenden Todes zu aufwändig. Das mag wohl stimmen und trotzdem wäre genau dies wünschenswert. Denn durch den medizinischen Fortschritt werden wir Menschen immer älter und wenn sich in der grundlegenden Altersversorgung nichts ändert, sehe ich eine Menge Probleme auf uns zukünftige Alte zukommen. Das sind dann wahrlich keine tollen Aussichten.

Die Sache mit meiner Mutter geht mir Nahe. Näher als mir lieb ist und mir gut tut. Gerade heute Morgen habe ich entschieden, wieder etwas Psychohygiene zu betreiben. Der Januar eignet sich dazu hervorragend, wie ich finde. Achtsamkeit mit sich selbst ist der Grund für diese Entscheidung. Durch Achtsamkeit erkennt man seine inneren Muster und lernt die Zusammenhänge zwischen seinen Gefühlen, Gedanken und Bedürfnissen kennen. Weil ich ungerne kämpfe. Weder gegen andere und gegen mich schon gar nicht. Ich weiss, damit komme ich dem inneren Frieden wieder ein Stückchen näher.

Was tut ihr, liebe Leserin und lieber Leser, wenn euer Seelenfrieden gefährdet ist? Ignorieren, das wird schon wieder, Ablenkung oder geht ihr das Problem aktiv an? Gibt es eine spezielle Methode, die ihr dafür anwendet? Ich freue mich auf eure Kommentare und bin gespannt.

Quelle: https://www.promentesana.ch/de/angebote/shop/detail/produktdetail/zeitschrift-pms-aktuell/094-psychisch-krank-im-alter.html

 

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

13 Kommentare zu „Getrieben – Keine Ruhe vor sich selbst

  1. Ach, liebe Franziska, ich sitze hier und habe wieder Tränen in den Augen. so nahe gehen mir Deine Worte.
    Ich bin DEINEM Blick in dieses Altersheim, diesen Zuständen, Deinem seelischen Jetzt-Zustand gefolgt. Nein, ich WOLLTE mich nicht abgrenzen. Es ist gut so.
    Ich mag es sehr, wie offen und wie einfühlsam Du mit diesem Thema umgehst. Kein Wort des Hasses ist zu lesen – nur ehrliche Gedanken und Gefühle.
    Niemand kann Dir all das abnehmen. Um so wichtiger ist es, dass Du gut zu Dir bist und Dich wieder verstärkt der Achtsamkeit widmest.

    Ich kann gar nicht mehr schreiben, da ich ja noch die „Pipi“ in den Augen habe, die meinen SchreiberBlick verschleiert.

    Ich umarme Dich in Gedanken,

    herzlichst
    Sylvia

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  2. Ich neige dazu, erst mal abzuwarten. Aber wenn klar ist, dass sich von alleine keine Lösung ergibt, suche ich mir eine Person, von der ich denke, dass sie mich versteht oder sogar unterstützten kann, und spreche mich bei ihr aus. Oft hilft schon allein das Gefühl, nicht allein dazustehen.

    Dass psychische Probleme scheinbar weniger ernst oder als bekämpfenswert genommen werden als physische finde ich traurig. Sowohl für den Betroffenen als auch für die Angehörigen ist das schlimm.

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  3. Liebe Franziska,
    so nah und so ehrliche Worte, so nachfühlbar. Mein Gedanke war auch am Anfang deiner Zeilen, dass die liebe Franziska auch Acht auf sich selbst geben muss_kann_möchte und dann fragst du am Ende deiner Worte genau danach, wie wir Leser uns helfen wenn unsere Seele davon trabt und abwegig in Schieflage verfällt.
    Ich versuche in solchen Momenten mir in Erinnerung zu rufen, was mir hilft_gut tut_wo meine Seele wieder einen Anker braucht, um weiter in die Zukunft zu reisen. Manchmal sind es die kleinen Momente, die kleinen Inseln, die einen dann über den Tag_ die Tage tragen. Jeden Tag ein wenig für sich selbst machen, denke ich hilft mehr als einmal im Monat einen Wellnesstag oder so was zu machen. Ich denke, täglich eine Dosis für einen selbst machen und sei es nur einen Kaffee in aller Ruhe zu genießen und sich besinnen auf die positiven Dinge des Tages, die manchmal so schnell vorbei fliegen, dass ich sie nur im später_stillen nachdenken erfassen kann und für mich als heilsam empfinden_verarbeiten kann.

    Wenn es keine Hilfe für die älteren gibt, so könntest du dir selbst vielleicht Hilfe von außen suchen_holen?

    Ich möchte nicht gefällt mir klicken, weil ich es schlimm finde das Ältere Menschen einfach allein gelassen werden mit ihren Problemen und die Angehörigen schauen können wo sie selbst bleiben, aber ich finde es gut wie du darauf aufmerksam machst mit deinen Zeilen, dafür danke ich dir sehr.

    alles Gute und liebe Grüße

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  4. Im Normalfall helfen mir diese kleinen Auszeiten, diese sogenannten Inseln des Alltags sehr gut. Sich zwischendurch einfach etwas zuliebe tun. Dafür nehme ich mir gerne die Zeit und in der Regel gelingt mir das auch. Danke vielmals für deine lieben Worte und es ist schön, wenn ich mit meinen Beiträgen so tolle Menschen erreichen kann und so interessante und spannende Kommentare als Feedback erhalte. Herzlich, Franziska

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  5. Ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass man psychische Krankheiten weniger ernst nimmt, sondern vielmehr daran, dass man in der „normalen“ Altenpflege über zu wenig Know-how verfügt. Ruhigstellen ist dann eine Lösung, die leider viel zu oft angewendet wird.

    Gerade das mit dem Gefühl, nicht alleine dazustehen, Menschen um sich zu haben, die einem zuhören und für einen da sind oder wie in meinem Falle auch darüber zu schreiben, bringt schon eine spürbare Erleichterung. Danke für deinen wertvollen Kommentar. Herzlich, Franziska

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  6. Liebe Sylvia, was soll ich sagen. Da soll mir doch einer weismachen, dass Energien nicht über grosse Distanzen eine Wirkung haben. Ich hoffe, dein „Pipi“ ist in der Zwischenzeit getrocknet und dass du wieder einen klaren Blick hast. Ich kann so schreiben, weil ich schlicht keinen Hass empfinde. Dass ich ehrlich rüberkomme, ist mir sehr wichtig, macht man sich doch auch ein Stück weit verletzlich, wenn man seinen Seelenschmerz in die weite und globale Welt hinausschreibt. Solche Menschen wie du bestärken mich darin, das Richtige zu tun.Ich danke dir von Herzen für deine lieben und mitfühlenden Worte. Herzlich, Franziska

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  7. Liebe Franziska,
    ja, die „Pipi“ ist wieder getrocknet. Ach, ich wünschte, ich könnte das auch so wie Du: diese Dinge in die „weite und globale Welt“ hinausschreiben. Leider geht es nicht (auch aus beruflichen Gründen nicht).

    Vielleicht ein kleiner Anhaltspunkt, den ich mir auf Deinem Blog zumindest wage, zu schreiben:
    Meine Mutter hat sich nach 11 Jahren Nicht-Kontakt am Silvesternachmittag per Mail bei mir gemeldet.
    Ich hatte meinen Frieden bereits gefunden – nun ist alles aufgewühlt. Dennoch staune ich über meine Festigkeit, die ich mir hart erarbeitet habe.

    Ich wünsche Dir viel Kraft in dieser Zeit und einen guten Weg der Achtsamkeit, liebe Franziska.

    Herzliche Grüße
    Sylvia

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  8. Hallo Franziska,
    „Einrücken in feindliches Gebiet. Es ist unerfreulich und doch passt dieser Vergleich recht gut“. Besinn dich mal auf diesen Vergleich. Da liegen deine Wurzeln und nur da kannst du zur Ruhe kommen.
    L.G.
    PJP

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  9. Von der Know How Seite hatte ich das noch gar nicht gesehen, aber ja damit wirst du recht haben. Es fehlt vermutlich an Zeit und Geld sich wirklich mit den älteren Psychisch Kranken zu beschäftigen. Ruhigstellen als einzige Lösung das ist so traurig und auch finde ich so unwürdig. Die Pfleger müsste mehr auf die Menschen und ihre Bedürfnisse eingehen können und da sein. Doch vermutlich durch mangelnde Weiterbildung und Unterbesetzung ist das gar nicht Möglich, Leider.

    Wie ist das eigentlich, wenn in einem Altersheim kein Therapeut vorhanden ist? Gibt es dann externe Therapeuten die man hinzu ziehen könnte? Oder wird das von den Altersheimen unterbunden?

    Liebe Grüße und ich hoffe du kannst kleine Inseln für dich finden und daraus Kraft schöpfen.
    (Manchmal hilft mir auch etwas zu tun, was ablenkt und die Gedanken auf etwas bestimmtes konzentriert, wie z.B. Speckstein bearbeiten, Puzzle, Häkeln… Natur aufsaugen…)

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  10. Hallo, Franziska 🙂
    Ich bin eben über den Reader und das Suchwort „Therapie“ hier auf deinem Blog gelandet.
    Dein Beitrag erschüttert mich und erinnert mich daran, wohin auch ich irgendwann ganz schnell und leicht kommen kann, wenn ich es nicht schaffen sollte, jetzt irgendwann noch mein Leben aufzuarbeiten.
    Da ich auch einmal versucht hatte, in einem Altenheim zu arbeiten, um genau dies „besser zu machen“; bemerken mußte, dass es die „verfügbare Zeit“ jedoch nicht erlaubt, ahne ich zumindest, was es bedeutet, die eigene Mama dort zu wissen.

    Was ich tue, wenn ich meinen Seelenfrieden zu verlieren glaube?
    Ich lese, schreibe mir von der Seele oder kehre in mich.
    Versuche mir klar zu machen, dass solche Phasen wichtig sind, um mich selbst zu fühlen; mich mir anzunähern.
    Ich versuche anzuerkennen, dass mir derzeit keine Ruhe möglich ist – und male mir aus, wie es sein wird, wenn die Phase zu Ende ist.
    Wie ich durch die „Schwäche“ hindurch gestärkt daraus hervor gehe.
    Und wie schön die Sonne anschließend wieder scheinen wird.

    Ich werde mich wohl die Tage mal ein bißchen bei dir umsehen, wenn es dir Recht ist 🙂
    Liebe Grüße, Floh

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  11. Liebe Floh, herzlich willkommen auf meinem Blog. Das freut mich sehr. Auch ich folge dir jetzt. Dein Artikel über dich als Person ist wirklich schwere Kost, die nicht einfach zu verdauen ist. Unglaublich, welches Leid du in deinem Leben erfahren hast. Gut und sicher wertvoll, dass du im Schreiben eine Ressource gefunden hast.Ich wünsche dir ganz viel Kraft und Mut und hoffe, dass die Sonne bald wieder scheint. Herzlich, Franziska

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  12. Danke dir für dein Willkommen 🙂

    Deine Texte gefallen mir bisher sehr gut – auch wenn ich bislang selten etwas dazu zu sagen wußte.

    Mein eigenes Leben?
    Du hast ja selbst schon vieles dazu geschrieben – über Reflektion; Gedanken zu ändern; dass nichts statisch ist und das Leben in Wellen verläuft.
    Im Moment bin ich wohl in einer Senke – aber das wird sich wieder ändern. So, wie es sich immer wieder geändert hat. Ich arbeite zumindest dran 🙂
    Danke für deine lieben Wünsche, Floh

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