Die Ehre meiner Eltern

Kürzlich wurde ich auf Folgendes angesprochen: Ob meine Eltern meine Texte lesen und ob sie eigentlich wissen, dass ich von ihnen und meiner Kindheit so viel Negatives preisgebe. Und ob ich mir schon mal Gedanken darüber gemacht hätte, was sie wohl dazu sagen würden, wenn sie es denn wüssten?

Nein, meine Eltern lesen meine Texte nicht. Internet kennen sie nur vom Hörensagen. Zudem haben beide sehr schlechte Augen. Ganz ehrlich – ich war ein bisschen genervt ob dieser Frage. Merkt man, oder? Fühlte mich irgendwie angegriffen, zumindest im ersten Augenblick. Die Frage ist jedoch absolut gerechtfertigt und obendrein sehr interessant….

Natürlich habe ich mir schon Gedanken darüber gemacht, ob das, was ich über meine Eltern und meine Kindheit schreibe, richtig oder falsch ist. Mehrfach sogar und immer wieder. Meine Kindheit, meine Entscheidung. Nein, so einfach ist das nicht.

Ich glaube zu wissen, dass mein Vater nicht begeistert wäre, wenn er es wüsste, doch er würde es akzeptieren. Meine Mutter würde ausflippen. Schon als Kind hat sie mir eingebläut, mit niemandem über sie und ihre psychische Krankheit zu sprechen. Ich habe mich schon damals nicht daran gehalten und das wiederum hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass es mir heute gut geht. Denn eine solche Tabuisierung ist für ein Kind eine weitere Belastung. Wenn man sich mit dem Thema „Kinder psychisch kranker Eltern“ beschäftigt, dann ist das eine traurige Tatsache, der man ins Auge blicken muss.

Psychisch kranke Menschen und deren Angehörige, nicht nur Kinder, leben auch heute noch in einer Welt, wo Stigmatisierung und Tabuisierung zum Alltag dazugehören. Man schämt sich, fühlt sich als Versager, oft als Aussenseiter dieser Gesellschaft. Viele leiden im Stillen und suchen aus Scham keine Hilfe und enden dann wo? In der Isolation.

Ich finde nicht, dass ich über meine Eltern respektlos schreibe. Und doch ist die Geschichte, meine Geschichte, mit vielen negativen und belastenden Aspekten behaftet. Das lässt sich umständehalber kaum vermeiden. Ich schreibe die Wahrheit aus meiner Sicht und wie ich es als Kind und auch Erwachsene erlebt habe und noch immer erlebe. Unbeschönigt und manchmal schonungslos offen. Wenn ich die vielen Texte über meine Eltern im Nachhinein lese, finde ich keine Vorwürfe, keine Wertung, keine Anklage. Das war und ist mir äusserst wichtig und ich denke, dass mir das soweit ganz gut gelungen ist.

Der Grund, warum ich dieses Thema immer wieder aufgreife ist einfach. Schweigen ist keine Lösung. Am allerwenigsten dann, wenn Kinder betroffen sind. Doch auch heute wird noch zu viel geschwiegen. Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil haben genug zu bewältigen. Schweigen macht alles nur noch schlimmer. Das ist meine Erfahrung. Und deshalb breche ich dieses Schweigen – für mich und für alle, die in einer ähnlichen Situation aufgewachsen sind und wissen, dass es falsch ist, aus Scham zu schweigen. Damit ist niemandem geholfen. Weder den Betroffenen selbst, noch den Angehörigen.

Kinder aus Familien mit einem psychisch kranken Elternteil spüren schon früh, dass mit Mama oder Papa etwas anders ist. Sehr oft sind die Eltern so sehr mit der Situation beschäftigt, dass sie „vergessen“ ihrem Kind zu erklären, was mit dem kranken Elternteil los ist und worunter dieser leidet. Sehr oft reden auch die Eltern nicht miteinander, was die psychische Krankheit für die Familie und die einzelnen Familienmitglieder bedeutet. Diese mangelnde oder gar fehlende Kommunikation führt dazu, dass ein Kind sich unverstanden und isoliert fühlt.

Zudem neigen Kinder in dieser Situation oft dazu, die Schuld bei sich zu suchen. „Was habe ich falsch gemacht, dass Mama oder Papa plötzlich so anders, so traurig sind?“

Die Frage nach der Ehre meiner Eltern, so nenne ich es, zeigt eigentlich sehr deutlich, wo das Problem auch heutzutage noch liegt. Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind anders als gesunde Menschen. Nicht schlechter, sondern ANDERS. Das möchte ich aufzeigen. Das und welche Folgen daraus resultieren können. Für die Kinder, aber auch für das gesamte Familiensystem. Ja, Menschen mit einer psychischen Erkrankung funktionieren nicht so, wie „man“ es gewohnt ist und wie es von der Gesellschaft erwartet wird. Das Thema „psychische Krankheit“ ist leider vielerorts immer noch ein Tabuthema. Scham- und Schuldgefühle verhindern oft eine offene Auseinandersetzung.

Und dagegen gehe ich an. Mit meinen Texten, aber auch indem ich mit meinen Freunden immer offen darüber geredet habe . Auch ich kenne diese Schuld- und Schamgefühle. Sogar heute noch. Aber genau darum finde ich es so überaus wichtig, darüber zu schreiben und zu sprechen.

Weil es Wege gibt, damit umzugehen. Weil es Lösungen gibt, um zu überleben. Weil ich Mut machen will. Weil ein Schicksal nicht einfach vorbestimmt und starr ist. Weil es immer Hoffnung gibt.

Weil es viele erwachsene Kinder mit psychisch kranken Eltern oder einem psychisch kranken Elternteil gibt – mehr als man denkt.

 

 

 

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

15 Kommentare zu „Die Ehre meiner Eltern

  1. Du machst alles richtig, aber das weißt Du ja selbst. Außerdem sollte das jeder für sich entscheiden und niemand hat ein Recht, darüber zu urteilen.
    Leider sind nicht alle Menschen so stark wie Du und gehen einen solchen Weg. Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die diese Kraft nicht haben, „Helfer“ an die Seite gestellt bekommen, um sich begleiten zu lassen. Leider ist das ein Wunschtraum. So gehen viele den Weg der Verwahrlosung, den Weg der tiefen Depressionen, Abhängigkeiten.

    Liebe Grüße
    Sylvia

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  2. Liebe Sylvia, das ist lieb von dir, aber ich mache bestimmt nicht alles richtig. Aber in diesem Fall schon. Die Bemerkung meiner Bekannten habe ich zuerst als Kritik aufgefasst, habe es aber dann als Denkanstoss verwendet. Wenn es nur ein paar mehr werden, die Hilfe in Anspruch nehmen, dann bin ich schon zufrieden und habe zumindest teilweise etwas erreicht. Du weisst ja: steter Tropfen höhlt den Stein. 🙂 Herzlich, Franziska

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  3. Ich sah viele „zerstörte Seelen“ in einer psychosomatischen Klinik: schwere Essstörungen, Borderline, Bipolare Störungen etc.. Es war so unendlich traurig für mich, dies zu sehen. Damals war ich Anfang 30, eine der ÄLTESTEN auf der Essstation – das muss man sich mal vorstellen. Die jungen Mädchen waren meine „Schäfchen“, wie ich sie damals liebevoll nannte.
    Eine, sie hieß Franzi (Zufall), die bleibt mir in ewiger Erinnerung. Sie wuchs in den ersten Jahren mit einem devoten Vater auf, kaputtes Elternhaus. Zu dem Zeitpunkt ihrer Einlieferung war das Elternhaus okay. Die Mutter hatte seit drei Jahren einen neuen, liebevollen Partner. Doch die frühkindlichen Erfahrungen und Erlebnisse waren in Franzi verankert.
    Sie litt unter Anorexia und Bulimie nervosa – abwechselnd. Sie war so dünn, so zerbrechlich. Ich war ein Kasper für meine „Schäfchen“ und sie mochte mich sehr.

    Als sie nach zwei Wochen noch immer keinen Gramm zugenommen hatte, wurde sie in ein Einzelzimmer gesteckt. Sie sollte sich nur auf sich und das Essen konzentrieren. Besucher durften nur nach Anmeldung im Schwesternzimmer bzw. Absprache mit der zuständigen Ärztin zu ihr.
    Ich war die Hauptbesucherin. Eines Tages eröffnete mir die Körpertherapeutin, dass ich nicht mehr zu ihr dürfe. Sie würde bei mir zu viel lachen. Das würde Kalorien verbrennen. Franzi hat geweint. Ich fühlte ich hilflos. Ob das gesund war? Ich wage es zu bezweifeln.

    Drei Tage später wurde sie mit dem Rettungswagen und Martinshorn aus der Klinik abgeholt und zur Zwangsernährung in die Klinik „Weißer Hirsch“ in Dresden gebracht.
    Nie habe ich erfahren, was aus meiner kleinen Franzi geworden ist, ob sie es geschafft hat. Ich lief nur zum Krankenwagen (wir „Mädels“ saßen gerade in der Sonne, vor der Klinik auf der Wiese – zumindest die nicht mehr Untergewichtigen, für die anderen war Sonnen wegen des Verbrennens der Kalorien verboten …).
    Ich habe Rotz und Wasser geheult.

    Manchmal kommt die Hilfe auch recht spät. Ich hoffe so sehr, dass sie den Kampf gegen diese abscheuliche Krankheit gewonnen hat.
    Im Übrigen hatte ich 20 Jahre schwere Essstörungen, davon 13 Jahre Bulimie.

    Man kann nicht alle retten, doch ich hoffe immer wieder, dass für jede kranke Seele Helferlein da sein – egal, in welcher Form.

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  4. Ich bin dankbar, Franziska, dass du schreibst wie du schreibst. Ich bin selbst in sehr viel gefestigterem Umfeld aufgewachsen, meine Mutter war jedoch zumindest zeitweise depressiv. Das allerdings habe ich erst im Erwachsenenalter erfahren. Das schwierigste war für mich als Kind zu spüren, dass etwas nicht stimmt- aber mein Vater, unser Umfeld hat immer getan, als ob nichts wäre (und tut es heute noch). Diese konstante Anspannung in der Luft. Zum Glück hatte ich in meiner Grossmutter eine rettende Insel. Es ist alles gut gekommen mit meinem Leben, es hat aber das Reden drüber gebraucht: Mit Freundinnen, Freunden, meiner kleinen Schwester, später eunem Therapeuten. Also: Nicht anklagen, aber die Dinge ausprechen, reden reden reden…

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  5. Liebe Bettina, danke für deinen lieben Kommentar. Ja, so eine Grossmutter oder auch eine andere Person kann für ein Kind in einer solchen Situation tatsächlich ein richtiger Rettungsanker sein. Schön. In so einem Fall finde ich auch, dass Schweigen nicht Gold ist, sondern das Reden. Herzlich, Franziska

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  6. Ich habe selber keine Kinder und die meines Partners sind bereits erwachsen.
    Über diesen „Umweg“ bin ich nun aber Wahloma zweier Enkelkinder geworden, die Teile ihrer Schulferien hier verbringen.
    Bisher haben sie keine depressiven Tiefs oder Panikattacken mitbekommen.
    Aber wenn das mal soweit ist, werden wir ihnen – so kindgerecht wie möglich – erklären, was los ist.

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  7. Das finde ich super, mutig und auch richtig. Ich lese deine Blogs regelmässig und danke dir für deinen wertvollen Kommentar. Ja, auch Enkel können davon betroffen sein. Herzlich. Franziska

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  8. Liebe Franziska,

    ein Statement das ich richtig klasse finde. Es gibt so viele Themen in unserer Gesellschaft, die es gilt ans Licht zu holen. In die Medien, in die Köpfe der Menschen. Und es gibt so wenig Leute die den Mut haben, brenzlige Themen anzusprechen und zu ihrem Thema zu machen. Umso wichtiger, dass solche Artikel öffentlich werden und zeigen, dass jede Medaille mehr wie nur eine Seite hat.

    Sonnige Grüße
    Jana

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  9. Die Ehre der Eltern….. das hat für mich den touch in die Richtung Gesetzbuch – die Würde eines Menschen ist unantastbar.
    Aber das ist sie so oder so. Ich glaube nicht, dass „andere Menschen“ einem die Würde nehmen können – das kann man nur selbst; durch das eigene Tun.

    Ich schreibe auch offen.
    Auch wenn es bei mir nicht ganz so oft um meine Eltern geht, habe ich letztlich keinen Grund, darüber zu schweigen. Sie haben Fehler gemacht – das ist Fakt.
    Auch ich habe Fehler gemacht bei meiner Tochter. Sogar gravierende Fehler.

    Wenn ich die Geschichte meiner Familie betrachte, dann muß ich anerkennen, dass die Fehler der Eltern aus Fehlern deren Eltern und deren Eltern resultieren. Irrtümer wurden unreflektiert und ohne sie (an-) zu erkennen weiter gegeben, bzw. nachgemacht.
    Man hat es nicht besser gewußt; nicht besser gelernt oder nicht besser gekonnt.

    Dass ich etwas ändern oder lernen muß, kann ich erst dann annehmen und begreifen, wenn ich den Fehler oder das Defizit erkenne und begreife, dass etwas so nicht weiter gehen darf.

    Diese Entwicklung wurde in den Generationen vor mir versäumt.
    Auch ich bekam zuerst mein Kind – und habe erst dann erkannt, wie viele Defizite ich habe. So war die Zeit bis zu ihrem Erwachsenwerden leider nicht ausreichend, um generationenlange Fehlverhaltensmuster zu verändern. Heute macht meine Tochter ebenfalls Therapie.

    Im Schweigen verändert sich nichts; verbessert sich nichts. Und es ist kein Verbrechen; nichts Schlimmes, Fehler zu machen und Dinge nicht zu wissen. Wir sind Menschen.
    – Aber ich sehe eine Art Verbrechen darin, diese Fehler und Defizite zu BELASSEN und FORTZUFÜHREN; aus purer Angst und Feigheit, sie sehen und eingestehen zu müssen.

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  10. Liebe Floh, wie Recht du hast. Jede Generation hat die Chance, Dinge anders und/oder im optimalen Fall besser zu machen. Doch das Verändern von eingespielten Mustern bedarf einer ziemlichen Anstrengung. Leider wählen viele Menschen den einfachen und bequemen Weg…nämlich den, alles beim Alten zu belassen. Wenn ich deine Texte lese, spüre ich, dass du deine Fehler und Defizite erkannt hast und mehr als bereit bist, daran zu arbeiten. Das verdient meinen ganzen Respekt – du machst das wirklich super. Herzlich, Franziska

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  11. Danke für diesen Blog – ich habe deine Seite eben erst entdeckt, bin noch ziemlich neu in dieser Landschaft hier, aber es ist ungemein faszinierend, wie man auf Perlen stoßen kann, ohne sie wirklich zu suchen.
    Schön – nun, eigentlich nicht, aber irgendwie eben doch – dass es andere gibt. Und dass von diesen „anderen“ auch wiederum wenige andere den Mut haben, darüber zu sprechen.
    Das ist vorab ein Kommentar, in dem ich Danke sagen will – ich habe aber das Gefühl, dass ich nach einigem Stöbern hier auch in Zukunft noch von mir hören lasse.
    Ich wünsche dir von ganzem Herzen alles Gute.

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  12. Hallo du, als Perle hat GYGYBLOG bisher noch niemand bezeichnet. Das freut mich also ausserordentlich und schmeichelt mir sehr. Danke vielmals.Ich freue mich sehr, dich auf meinem Blog willkommen zu heissen. Herzlich, Franziska

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