Ein Königreich für die Erschöpften dieser Welt…

Ich bin müde, obwohl ich eigentlich genug geschlafen habe. Ich ernähre mich (mehr oder weniger) gesund. Und trotzdem bin ich gerade heute (einmal mehr) so unglaublich erschöpft. Wäre es möglich, würde ich mich einfach hinlegen und schlafen. Damit hätte ich überhaupt kein Problem. Doch das ist nicht möglich, der Alltag hat mich fest im Griff. Tausend Dinge, die ich noch zu erledigen habe. Immer wieder, jeden Tag aufs Neue – endlos.
 Mit diesem Phänomen bin ich jedoch nicht alleine. Viele, die ich kenne, klagen gerne und oft darüber. Liegt es an der Jahreszeit? Vielleicht. Für mich ist der Frühling jedoch die Jahreszeit, in welcher die Natur erneut zum Leben erwacht. Die zarten Knospen der Pflanzen strecken ihre kleinen Blütenknöpfe schon rege der Sonne entgegen. Das scheint mir keine Erklärung für dieses Phänomen.
 Das lässt jedoch die Frage aufkommen: Ist die Menschheit am Ende ihrer Kräfte? Arbeiten wir zu viel? Schlafen wir zu wenig? Woran liegt es, dass viele Menschen so erschöpft, so müde sind? Es ist schwer genug, im Dämmerzustand des Geistes über die Ursachen dieses Phänomens nachzudenken und doch ist es spannend, zu versuchen, der Übermüdung der Gesellschaft auf den Grund zu gehen.
Unser Leben dreht sich immer schneller, wir hetzen von einem Termin zum Anderen. Wir sind oft getrieben von einer uns begleitenden, inneren Unruhe. Der Mensch ist auf Achse, oft unterwegs. Viele Menschen sind auf der Suche nach Erfüllung. Auf der Jagd nach dem gewissen Etwas. Und das sowohl im Berufsleben als auch im Privaten. Es ist nicht leicht, sich dem Druck der Leistungsgesellschaft zu entziehen. Höher, schneller, weiter…Gerade in der Arbeits- und Berufswelt ist dieses Motto vermehrt zu beobachten.
In kulturkritischen Kreisen ist die allgemeine Müdigkeit ein Symptom für die Vereinsamung des Menschen, für seine Entwurzelung und Gefährdung.
Das einfachste Modell für Müdigkeit ist ein negatives Kräftekonto: Der Verbrauch an geistiger und körperlicher Energie übersteigt die Vorräte. Doch wo liegt der Anfang? Der Philosoph Byung-Chul Han hat in seiner Fibel „Müdigkeitsgesellschaft“ die Digitalisierung als Ursache der Erschöpfung beschrieben.
Sehr interessant finde ich diese Theorie: „Die neuen Aufmerksamkeitstechnologien stellten keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt in der Evolution dar, denn im Multitasking nähere sich der Mensch wieder dem wilden Tier an, das gleichzeitig auf Fressfeinde, Nachwuchs und Geschlechtspartner achten muss.“ (Die Welt.de, Onlineartikel 24.10.2013)
Vielleicht haben die Japaner die Lösung gefunden. Sie heisst „Inemuri“. Ein hübscher Name für eine Kombination aus „anwesend sein“ und „Schlaf“. Es bedeutet, dass man in der Öffentlichkeit schläft, während man offiziell etwas anderes tut. Die Japaner beherrschen die Kunst, auf Knopfdruck schlafen zu können. Zudem spielt es keine Rolle, wo man sich zu diesem Zeitpunkt gerade befindet. Man stelle sich dies mal in unserer westlichen Welt vor. Wäre wohl eher schwierig.
Das Phänomen der allgemeinen Ermüdung gab es jedoch schon lange vor unserer Zeit. Die Erschöpfung ist also nicht ein Phänomen der heutigen Zeit sondern ein Zustand, der schon weit mehr als hundert Jahre andauert. Dornröschen lässt grüssen!
In den Medien kommt zudem das Thema „Burnout“ immer wieder zur Sprache. Burnout ist ein lang existierendes Phänomen mit verschiedensten Namen. Allen kann es passieren – Hausfrauen, Bankern und Managern. Es sind Krisentexte, die warnend zu uns Erschöpften sprechen, selbst dann, wenn die Botschaften in unserer Schläfrigkeit kaum noch zu uns durchdringen. Ist es früh, ist es spät? Oder gar schon viel zu spät? Sind wir Menschen tatsächlich schon am Ende oder waren wir es vielleicht von Anfang an? Ist die Müdigkeit dieser Tage nur ein Symptom für die Vereinsamung des Menschen, für eine stetig wachsende Unruhe, ein anwachsendes Streben nach mehr?
Das Seltsame an der Erschöpfung ist, dass sie keinen Anlass braucht. Sie bedarf keiner Erklärung, sie erfasst all jene, die sich den Herausforderungen des Lebens stellen. Es erfasst auch Menschen, die davor zu flüchten versuchen. Kliniken und vergleichbare Institutionen können ein Liedlein davon singen.
Sie war schon immer da – die Müdigkeit. Sie war da, bevor das Internet kam, sie war schon da, bevor die Grossstädte aus dem Boden gestampft wurden und sie war bereits hier, als die erste Glühbirne eingeschraubt worden ist.
Am Ende eines langen Tages ist Müdigkeit eine Droge, die im Körper Endorphine freisetzt. Es gibt nichts schöneres, als ihr zu widerstehen und nichts ist befriedigender, als ihr nachzugeben. Die Müdigkeit kann nicht abgeschafft werden – dies wäre ein ganz sinnloses Vorhaben. Ich nehme mir die folgenden Worte von Jean-Luc Nancy, einem grossen französischen Philosophen, zu Herzen: „Niemals, aber niemals schläft die Seele.“
Ganz in diesem Sinne: Schlaft gut und bis morgen!

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s