Vor noch nicht allzu langer Zeit habe ich auf meinem Facebook Blog einen Text zum Thema „Zivilcourage“ geschrieben. Der Grund dafür war, dass im März des vergangen Jahres ein junger Mann im Kanton Basel bewusstlos auf der Strasse lag. Er erlitt einen Schlaganfall. Zig Menschen gingen an ihm vorbei, und das ohne nach ihm zu sehen oder die Polizei oder Ambulanz zu rufen. Erst als es schon zu spät war, hat sich endlich jemand getraut, genauer hinzuschauen und die Ambulanz zu verständigen. Der junge Mann wird wegen fehlender Zivilcourage ein Leben lang an den Folgen des Schlaganfalls zu leiden haben, die ein beherztes, mutiges und rechtzeitiges Eingreifen hätten verhindern können.
Blind, taub und stumm. Leider fällt es vielen Menschen schwer, sich aus der Masse der Schweigenden, Mitläufer oder Desinteressierten abzuheben und so den Schutz und die Geborgenheit dieser Gruppe zu verlieren. Diese Angst gilt in unserer Kultur nicht als krankhaft.
Mut, auch Wagemut oder Beherztheit, bedeutet, dass man sich traut und fähig ist, etwas zu wagen, das heisst, sich in eine gefahrenhaltige, mit Unsicherheiten verbundene Situation zu begeben. Beherztes Handeln setzt gemäss dieser Definition nicht voraus, dass ich mich todesmutig in Gefahr begeben muss, um für etwas einzustehen, das mir falsch oder ungerecht erscheint. Oder bei Bedarf Hilfe zu leisten.
Wenn ich für eine Sache oder für Jemanden einstehe, dann hat das in den allermeisten Fällen etwas mit mir selbst zu tun, denn meine Vorstellungen und Werte werden in so einem Moment ebenfalls mit Füssen getreten. Ich könnte dieses Gefühl ignorieren oder ich kann darauf reagieren. Genau das habe ich dieses Wochenende getan. Ich habe Jemanden, den ich über alles liebe, beschützen wollen, nachdem diese Person verbal derart beleidigt wurde, bis MIR der Kragen platzte. Es war eine instinktive Handlung – ich hatte nicht viel überlegt, sondern situativ ganz spontan reagiert. In dieser Sekunde habe ich nicht überlegt, ob das, was ich tue, richtig oder falsch war. Es war eine beherzte Handlung aus meinem tiefsten Inneren heraus, da durch diese Beleidigungen ebenso auch MEINE Wertvorstellungen verletzt worden sind. Ich habe diese Person vor die Tür gesetzt. Ohne „Wenn und Aber“.
Vor gut zwei Jahren sass ich im Zug, als mein Handy klingelte. Schon beim Einsteigen fiel mir eine Frau auf, die in einer fremden Sprache laut und wütend in einem Zugwagen nebenan herum geschrien hat. Kaum hatte ich den Anruf angenommen, stand diese wütende Frau plötzlich vor mir. Sie hielt einen Stein in der Hand und schrie mich an. Verstanden habe ich nichts. Jedoch habe ich instinktiv begriffen, dass sie wegen meines lauten Klingeltones so enerviert war. Ich habe mich kurz umgesehen und bemerkt, dass die anderen Passagiere die Situation wohl bemerkt haben, aber niemand hat zu mir und der wütenden Frau hingesehen. Also habe ich den Anruf beendet und aus dem Fenster geschaut. Ich konnte mich kaum bewegen. Ich war starr vor Angst. Mein Herz raste wie wild und dieses Gefühl lag zentnerschwer auf meiner Brust. Die Frau ging dann laut schimpfend weiter. Für einen kurzen Augenblick empfand ich tatsächlich Todesangst, obwohl mir nichts passiert war. Beim Aussteigen rief ich dann die Polizei an und teilte ihnen mit, dass im Zug eine sehr, sehr wütende Frau mitreist, die mit einem Stein bewaffnet ist. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.
Ich weiss nicht, ob mir in diesem Zug jemand geholfen hätte, wenn die Situation tatsächlich ausser Kontrolle geraten wäre. Einerseits ist dies traurig und andererseits weiss ich selbst nicht, wie ich als „Zuschauer“ einer solchen Situation reagieren würde. Bei Gefahr in Kombination mit Angst neige ich nämlich dazu, zu erstarren. Ich bin dann regelrecht blockiert. Mein Hirn scheint nicht mehr richtig zu funktionieren. Zumindest kurze Augenblicke lang.
Einmal war ich mit einem Freund auf den Rollerblades unterwegs – ohne Helm. Als es steil den Hügel runter ging, da passierte es…er konnte nicht mehr bremsen und ist in voller Fahrt auf sein Gesicht geknallt. Das Knacken der gebrochenen Nase konnte ich trotz einiger Meter Entfernung deutlich hören. Er blieb regungslos liegen und Blut sickerte auf den Boden. Auch hier war ich im ersten Moment vor lauter Schock wie gelähmt. Und obwohl ich mein Mobile in der Hand hielt und eigentlich die Ambulanz anrufen wollte, kamen mir in diesem Moment diese drei vermaledeiten Ziffern einfach nicht in den Sinn. Nach einem kurzen Augenblick, mir schien es wie Minuten, war ich in der Lage, die Nummer 144 zu wählen. Alles ist gut ausgegangen. Er hatte eine gebrochene Nase und eine Hirnerschütterung.
Vor etwa sieben Jahren war meine Tochter auf ihrem Fahrrad unterwegs und konnte nicht bremsen und fuhr auf eine stark befahrene Strasse zu. Sie war damals vier Jahre alt. Als ich die Gefahr realisierte, geriet ich in Panik. Auch hier konnte ich mich ein paar Sekunden nicht vom Fleck rühren. Schockstarre. Erst dann ging ein Ruck durch meinen Körper und ich rannte los, hochschwanger, und schrie, sie solle auf die Wiese fahren. Es ist nichts passiert. Gottseidank! Wir kamen mit einem Schrecken davon.
In gefährlichen Situationen haben wir Menschen zwei Möglichkeiten: Angriff oder Flucht.
Diese Verhaltensweisen sind in dem ältesten Teil des menschlichen Gerhirns abgespeichert – im sogenannten Reptilienhirn.
Das Reptiliengehirn wird auch als Stammhirn bezeichnet. Dieser Teil des Hirns hat sich vor mehr als 200 Millionen Jahren aus den einfachen Lebensformen heraus entwickelt. Seither ist es praktisch unverändert geblieben. Dieser Teil im Hirn stellt sicher, das der Körper mit all seinen Funktionen bei Gefahr am effizientesten arbeitet.
Dieser alte Teil unseres Gehirns übernimmt in bestimmten Stresssituationen die gänzlich lähmende und negative Kontrolle über uns. Das grosse Problem dabei ist, dass das Reptilienhirn nicht unterscheiden kann, ob eine Gefahr real ist oder ob wir uns diese bloss einbilden. Es unterscheidet nicht zwischen Realität oder Fiktion.
Wenn wir unbewusst oder bewusst etwas negativ bewerten, werden sofort Stresshormone in unseren Körper ausgeschüttet. Dem Grosshirn (inkl. des hoch entwickelten Stirnhirns) wird augenblicklich Energie entzogen, wodurch es chemisch und hormonell blockiert wird. Das Reptiliengehirn bereitet uns dann auf Kampf oder Flucht vor. Zudem wird die Amygdala, das Alarmsystem unseres Gehirns, aktiviert. Wir erleben Stress, Angst oder Panik – unsere Nerven sind zum Bersten gespannt. Das Reptiliengehirn und das limbisches System arbeiten immer mit der rechten Gehirnhälfte (der gfühlsmässigen Hälfte) zusammen, dadurch kommt es bei Dauerstress ebenfalls zu einer Beeinträchtigung des Immunsystems und der Selbstheilungskräfte.
Unter diesem Aspekt ist es leichter zu verstehen, warum es manchmal so schwer ist, unsere Gefühle und auch unsere Triebe zu kontrollieren.
Auch in diesem Bereich gibt es Wege, wie man mittels Simulationstechnik und einer besonderen Trainingsart eine Veränderung erreichen kann. Dafür braucht es jedoch lange Jahre intensiver Meditation. Das mag für buddhistische Mönche ein gangbarer Weg sein, jedoch scheint mir diese Lösung sowohl für mich als auch für einen sehr grossen Teil der Menschheit ziemlich unrealistisch.
Wenn zwei Personen mit dem Messer aufeinander losgehen, werde ich auch in Zukunft nicht diejenige sein, die dazwischen geht. So gut kenne ich mich in der Zwischenzeit. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, um zu helfen und sei dies lediglich, dass ich beherzt zum Telefon greife oder sonst Hilfe organisiere.
Hattet ihr schon einmal Angst um euer Leben? Oder gab es brenzlige Situationen, in denen ihr nicht wusstet, wie ihr reagieren sollt? Wie geht ihr mit Angst, Stress oder Panik um? Wohin tendiert ihr – Angriff oder Flucht?
Hallo Gygy,
ich finde Deinen Artikel, besonders wo es um die Zusammenhänge von Verhalten und Gehirn geht, sehr interessant und informativ.
Dass z.B. Etwas in uns nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheidet, wie Du es vom Stammhirn gesagt hast, finde ich sehr interessant, weil ich mir damit auch schonmal versucht habe zu begründen, warum man schlechte Gedanken vermeiden sollte. Diese Begründung lautete etwa so.
Wenn ich beständig denke einer bestimmten Person schaden zu wollen, dann hält mein Unterbewußtsein dies für wahr und treibt mich dazu es umzusetzen. Also sollten wir solche Gedanken vermeiden.
Ist jedoch nur ein Ansatz und noch keine schlüssige Theorie. Der Ansatz hat auch einen Haken. denn wenn es bereits für wahr gehalten wird, warum sollte ich dann noch dazu getrieben werden es umzusetzen. Es könnte daher ebenso gut eine Vermeidungsstrategie sein.
Lieben Gruß
Titus
LikeGefällt 1 Person
Lieber Titus, Danke fürs Kompliment. Es freut mich sehr, dass dir meine Texte gefallen und du sie interessant findest. Natürlich ist das in Tat und Wahrheit nicht so einfach und klar, wie ich’s beschreibe sondern recht komplex, wie ja auch deine Theorie deutlich zeigt. GLG, Franziska
LikeLike