Lieber Papa
Gestern vor einem Jahr hast du diese Welt verlassen. In liebevollem Gedenken an dich habe ich dein Grab besucht. Der Besuch verlief nicht ganz nach Plan, denn die Friedhofsgärtner waren gerade dabei, die Gräber neu zu bepflanzen. Auch wenn meinem Wunsch nach Stille und Andacht dadurch nicht Rechnung getragen wurde, war es trotzdem sehr, sehr wichtig.
Der gestrige Tag war ein emotional intensiver Tag. Es ist nicht mehr dieselbe Art von tiefer und allmächtiger Trauer, welche mich während der ersten drei Monate nach deinem Tod begleitet hat – die Art von Trauer, die mir manchmal kaum Luft zum Atmen liess, so schwer war der Druck auf meiner Brust. Heute ist viel mehr ein bewusstes Wahrnehmen von Erinnerungen und den damit verbundenen Gefühlen. Es ist nicht immer einfach, aber im Vergleich zum Anfang des Trauerprozesses deutlich leichter.
Auch nach einem Jahr denke ich im Alltag noch oft an dich. Ich sitze im Garten und blicke gen Himmel und plötzlich schiesst mir eine Erinnerung an dich durch den Kopf oder ich fahre mit dem Tram in die Gegend, wo wir früher gewohnt haben. Oder ich esse ein Fondue und erinnere mich daran, wie sehr du Fondue geliebt hast.
Der erste Todestag war einerseits ein Tag des Schmerzes, andererseits spürte ich am Grab ein tröstliches Gefühl, dass es dir dort, wo du jetzt bist, besser geht als während der letzten drei Jahre deines Lebens hier auf Erden.
Ich erinnere mich an deinen entspannten und zufriedenen Gesichtsausdruck auf dem Sterbebett. Dass ich dir in der Nacht des 9. Mai so Nahe sein durfte, dafür bin ich unsagbar dankbar. Ich gedenke der Stille, an das gespenstische Flackern des Kerzenscheins und an dieses starke Gefühl des inneren Friedens, das mich während dieser Nacht trotz des heftigen Schmerzes begleitet hat. Es war ein würdevoller und friedlicher Abschied.
Für mich warst du dein Leben lang ein würdevolle Persönlichkeit und ganz besonderer Mensch. Und das wirst du in meinen Erinnerungen so lange bleiben, bis auch ich eines Tages werde gehen müssen.
Gerne würde ich mit Mama meine Erinnerungen an dich teilen. Doch leider war es auch vor einem Jahr nicht möglich, gemeinsam zu trauern. Damals ging es ihr psychisch viel zu schlecht. Diese Möglichkeit wird sich weder gestern noch sonst irgendwann ergeben, denn heute geht es Mama gesundheitlich so schlecht, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass sie dir in Kürze folgen wird. Doch wenn die Zeit des Abschieds sein wird, liegt nicht in meinen Händen.
Ein Wunsch, den Mama heute mit leiser Stimme ausgesprochen hat: „Ich möchte zu Carl.“ Dieser Satz hat mein Herz berührt und ich spürte eine Verbundenheit, von der ich glaubte, sie längst verloren zu haben. Solche Momente des Glücks sind auch in den dunkelsten Stunden des Lebens möglich. Sie sind wie kleine, funkelnde Juwelen, die uns ganz unerwartet geschenkt werden.
Dankbar und in liebevoller Erinnerung
Deine Franziska
Und genau das ist es was es aus macht. Dies Momente des Glücks, die einem die Verbundenheit zeigen. Seien sie noch so kurz, doch sie sind da. Schöner Artikel über, der mich sehr berührt.
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