Meine Eltern und die Abwärtsspirale

Nach dem gestrigen Telefonat mit meinem Vater befürchtete ich für den heutigen Besuch meiner Eltern im Altersheim das Schlimmste. Das Gebrüll meiner Mutter aus dem Hintergrund übertönte sogar den Fernseher, der gefühlt auf Volume 30 lief, da mein Vater, wie so oft, auf sein Hörgerät verzichtet hat. Eine Geräuschexplosion in meinen Ohren, denn im Gegensatz zu meinem Vater höre ich ausgezeichnet.

Sofort ist es wieder da: dieses dumpfe Gefühl im Brustbereich, das mich immer dann heimsucht, wenn ich für meine Eltern Besorgungen zu erledigen habe und ein Besuch unvermeidbar ist. Ein Gefühl, das Gott sei Dank, auch immer wieder rasch vorüber geht.

Meine Mutter ist wieder zurück im Altersheim. Zurück von ihrem gut sechswöchigen Aufenthalt in der Gerontopsychiatrie (Alterspsychiatrie). Der, soweit es die Geräuschkulisse im Hintergrund des Telefons vermuten liess, überhaupt nichts gebracht hat.

Ich machte mich heute Morgen mit einem nicht allzu guten Gefühl in der Magengegend auf den Weg. Im Altersheim angekommen, verstärkte sich dieses Gefühl des Unbehagens. Wie reagiere ich auf meine Eltern, die in der Zwischenzeit beide über eine gehörige Anzahl an Geräuschen verfügen, die bestimmt nicht nur für Angehörige verwirrend und alles andere als einfach zu ertragen sind. Meine Eltern waren aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen schon immer eigen, aber seit sie im Altersheim sind, hat das Ganze ein Ausmass angenommen, das für mich als Angehörige kaum zu ertragen ist. Und dabei geht es nicht darum, was ich als Kind mit meinen psychisch kranken Eltern erlebt habe. Es ist einfach sehr schmerzhaft, Zeuge dieses Zerfalls zu werden.

Seit meine Eltern im Altersheim sind, hat sich der geistige und körperliche Zerfall mindestens verdreifacht. Ähnlich wie bei Katzen – die altern in einem Menschenjahr sogar um das Siebenfache. Gerade bei meinem Vater ist das leider sehr gut zu beobachten. Jedes Mal wenn ich dort bin, bin ich der festen Überzeugung, dass dies wohl endgültig das letzte Mal sein wird. Mein Vater ist nur noch Haut und Knochen. Seine Haare sind schon lange grau. Sein Gesicht ist es nun auch. Grau, bleich und eingefallen. Nichts spiegelt die Wahrheit des Alterns schonungsloser als das Gesicht.

Mein Vater sieht müde aus – unendlich müde. Abgekämpft. Und doch rappelt er sich immer wieder vom Bett auf, wenn ich zu Besuch komme. Er schlüpft in seine Prothese, zieht das Gebiss an und, nach dreifacher Aufforderung meinerseits, montiert er auch das Hörgerät, damit ein Minimum an Kommunikation stattfinden kann. Anschliessend kämpft er sich vom Bett in den Rollstuhl, wobei er jegliche Hilfe meinerseits strikt ablehnt. Mein Vater ist ein Kämpfer – das war er schon immer. Es gelingt mir nicht immer, meine aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Natürlich so, dass er davon nichts mitbekommt.

Zurück zu meinem heutigen Besuch. Bevor ich an der Türe klingle, halte ich ein Ohr an die Tür und lausche. Keine auffälligen Geräusche. Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Ich öffne die Tür und wie gewohnt verschlägt mir der Geruch nach abgestandenem Rauch beinahe den Atem. Ich renne zum Fenster und reisse die Balkontüre auf. Mein Vater protestiert, dass es dafür viel zu kalt zu. Wir einigen uns auf fünf Minuten Frischluftzufuhr.

Aus dem Zimmer meiner Mutter kommt kein Laut. Ich gehe zu ihr, um Hallo zu sagen. Seit Monaten bekomme ich darauf keine Antwort. Doch heute ist es anders. Sie liegt im Bett. Ein Anblick, den ich gewohnt bin. Seit Jahren. Auch schon vor dem Altersheim. Und doch öffnet sie kurz die Augen, schaut mich an und antwortet: „Hallo, Fränzi.“

Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört. Sie schreit nicht, sie keift nicht. Der Tonfall ist normal. Für mich sind diese beiden Worte grosses Kino.

Hätte ich sie gestern am Telefon nicht schreien gehört, könnte man tatsächlich glauben, dass die Medikamente ihre gewünschte Wirkung zeigen.

Ich gehe wieder zu meinem Vater ins Zimmer und beginne, die Papierberge zu sortieren und in die Ordner abzulegen. Dreimal ruft meine Mutter nach meinem Vater. Doch von ihm kommt keinerlei Reaktion. Er sitzt im Rollstuhl, raucht seinen Zigarillo und starrt die Wand an. Er wirkt wie weggetreten. Ich stupse ihn an und er schaut mich an. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass meine Mutter nach ihm gerufen habe. „Aha“, ist seine Reaktion darauf und er nimmt einen weiteren tiefen Zug von seinem bereits zur Hälfte abgebrannten Zigarillo.

Sonst nichts. Er ignoriert sie. Etwas, das er schon früher, bewusst oder unbewusst, getan hat. Ignoriert zu werden, ist frustrierend und tut weh. Es ist verletzend.

Plötzlich spüre ich Wut in mir aufsteigen. Wut auf meinen Vater. Weil ich diese Ignoranz des Öfteren auch schon am eigenen Leib erfahren habe.

Und ein weiteres Gefühl macht sich in mir breit, zumindest in diesem Augenblick. Ich sehe plötzlich die andere Seite der Medaille. Die gibt es immer, nur realisiert man sie oft erst dann, wenn man genauer hinschaut. Vielleicht war das „Hallo“ meiner Mutter der Auslöser dafür.

Die Wut und Aggressivität, welche meine Mutter vor ihrem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik gegenüber meinem Vater an den Tag gelegt hat, bekommt plötzlich ein Gesicht.

Ich kann es zwar nicht gutheissen, ganz und gar nicht, und trotzdem spüre ich so etwas wie Verständnis in mir aufkeimen. Verständnis für ihre Lage und wie es sich anfühlen muss, wenn man nicht gehört und nicht gesehen wird. Und das seit vielen vielen Jahren.

Für mich als Tochter ist es einmal mehr offensichtlich: sie schaden sich mehr, als dass sie sich guttun. Sie können nicht ohne, aber auch nicht miteinander sein. Dieses Phänomen wird mir in solchen Moment klar vor Augen geführt. Die Spirale beginnt sich erneut zu drehen. Zwar noch langsam, aber stetig.

Das Tempo ist ungewiss, doch die Richtung ist vorgegeben – es geht abwärts.

Alles bleibt wie es ist, wird wie es war.

 

 

 

 

 

 

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

13 Kommentare zu „Meine Eltern und die Abwärtsspirale

  1. Alte Leute ändern sich nicht mehr und geben ihre Gewohnheiten auch nicht auf, wenn es schädlich ist. Der Punkt, aktiv was zu ändern, existiert zwar nicht fix, aber jeder von uns scheint einen zu haben. Vielleicht eine wertvolle Lektion: Schwierigkeiten gleich anpacken, bevor sie sich zu dauerhaften Problemen auswachsen.
    Danke fürs Teilen deiner Erlebnisse.

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  2. DANKE für diesen Bericht, ehrlich, offen, direkt!
    Findest du Wege um diese Gefühle anzusprechen mit deinen Eltern?
    Vielleicht möchtest du darüber schreiben, vielleicht aber auch nicht, ich würde es verstehen!
    Mich interessiert es, weil ich Situationen, wie diese manchmal erlebe und mich frage, ob ich das Gespräch suchen würde oder nicht? Und wenn nein, warum nicht?
    Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft und Energie für deine Besuche!
    Herzlichst samu

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  3. Trotz allem glaube ich, dass auch alte Menschen die Möglichkeit haben, etwas zu ändern. Es fällt auch jungen Menschen schwer, Gewohnheiten aufzugeben und die Komfortzone zu verlassen. Selbst wenn die Komfortzone mit Komfort wenig gemein hat. Es lohnt sich bestimmt, Schwierigkeiten rechtzeitig anzugehen. Und manchmal sollte man als Paar auch erkennen, dass man sich schadet und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Herzlich, Franziska

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  4. Nein, solche Gespräch sind weder mit meinem Vater noch mit meiner Mutter möglich. Erfahrungsgemäss würde es auch nichts bringen. Ich spreche darüber mit meinem Partner und mit Freunden. Es ist auch nicht so, dass mich das nun tagelang beschäftigt, einfach dann, wenn ich vor Ort bin und mit ihnen und ihrer Situation konfrontiert werde. Ansonsten habe ich gelernt, mich abzugrenzen. Danke für dein liebes Kompliment und deine Wünsche, die ich gut gebrauchen kann. Herzlich, Franziska

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  5. Danke für deine Antwort. Du schreibst, erfahrungsgemäss… heisst das, du hast das Gespräch schon gesucht, Themen wie z.B. Ignoranz und die Auswirkungen davon schon angesprochen?
    Schön, dass du Menschen um dich hast, die ein offenes Ohr für dich haben und genial, dass du dich abgrenzen kannst!!!
    bis bald mal wieder….samu 🙂

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  6. Hallo Franziska,

    dein Beitrag hat mich betroffen gemacht. Warum? Weil es schwer ist, dass Älterwerden der eigenen Eltern auszuhalten. Weil es schwer ist, zu erkennen, dass eingebrannte Muster so tief sitzen, dass eine Veränderung unmöglich erscheint. Weil es schwer ist, wahr- und anzunehmen, wo die Grenzen eines Kindes (meine?) erreicht sind.

    Danke fürs teilen. ❤

    Liebe Grüße
    Jana

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  7. Das Älterwerden alleine ginge ja noch. Aber es ist, wie du, liebe Jana so schön sagst, die Paarung mit den eingefahrenen Mustern und das Akzeptieren, dass man dagegen überhaupt nichts tun kann.Es ist ’not my business“ und trotzdem beschäftigt es immer wieder aufs Neue, zumindest dann, wenn man, so wie ich, regelmässig mit der Problematik konfrontiert wird. Herzlich, Franziska

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  8. Darf ich fragen, welche Schritte du genau meinst? Den unaufhaltsamen Zerfall, die Abwärtsspirale, die Ignoranz oder die Wut? Herzlich, Franziska

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  9. Sehr schön geschrieben! Es ist sowieso schwer die Eltern ältern zu sehen. Mein Vater ist vor 4,5 Jahren an Krebs gestorben, sein Leidensweg hat etwa 2 Jahren gedauert. Meine Mutter hat sich nachher ziemlich gut gehalten. Seit gut einem Jahr hat sie eine Autoimunkrankheit und schwächelt stets. Ich versuche ihr wenigstens 3 Mal im Jahr für 2 Wochen zu besuchen, da ich etwa 800 km. entfernt wohne, telefoniere fast täglich mit ihr. Aber trotzdem ist es jedesmal schwer zu sehen dass die Kräfte abnehmen.
    Wenn die Eltern dann noch psychisch nicht mehr gut dabei sein, dann wird es umso schwerer. Ich finde es sehr mutig dass du so offen über deine Gefühle schreibst!

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  10. den Weg eines sehr nahen Familienangehörigen, beginnend vielleicht in der Adventszeit 2015, diese rasendschnelle Abwärtsbewegung und Verlust der Realität (und mit keiner Kraft der Welt liess sich der Prozess stoppen) – bis zur Beerdigung im letzten Monat!!!

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