Lieber Tinder…

Wir hatten keinen besonders guten Start, wir zwei Beide. Na gut, ich geb’s ja zu. Die Bedingungen waren gänzlich ungünstig – eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Ich weiss nicht einmal, ob Du männlich oder weiblich bist. Jedoch vermute ich, dass Du von Männern entwickelt wurdest. Also verzeih’ mir die Anrede, falls sie wider meine Annahme nicht richtig wäre.

Also gut, ich bin ehrlich. Du bist nicht alleine Schuld, dass sich meine Begeisterung in Grenzen hält. Schliesslich bin ich kein Single. Meinen Traummann kenne ich seit gut zwölf Jahren und wir haben zusammen drei wunderbare Kinder.

Aber ich wollte wissen und vor allem verstehen, warum es Menschen gibt, die ohne Dich nicht mehr existieren können oder wollen. Deren halbes Leben sich um Dich und Deine Funktionen dreht. Menschen, die von Dir abhängig sind. So sehr, dass sie wegen Dir sogar Autounfälle verursachen, weil Du sie mit Deinen Funktionen in ihren Bann ziehst. Lieber Tinder, Du bist ein Phänomen unserer heutigen Gesellschaft und das fasziniert mich.

Nach ein paar Gläschen Wein mit meiner allerliebsten Busenfreundin habe ich mich also entschieden, dass es an der Zeit ist, mit Dir Bekanntschaft zu schliessen. Auf Tuchfühlung zu gehen. Doch aller Anfang ist bekanntlich schwer. Zuerst wolltest Du partout nicht auf mein iPhone geladen werden. Als ich es endlich geschafft hatte, wolltest Du, dass ich mich via Facebook Account bei Dir registriere, was ich ehrlich gesagt nicht besonders geschätzt habe. Ich wollte es jedoch unbedingt wissen, also Augen zu und durch. Wer „A“ sagt muss auch „B“ sagen. So in der Art. Und plötzlich warst Du da. In Deiner ganzen Pracht. Und was geschah?

Vorerst einmal nichts. Nix. Nada. Irgendwie strahlte ich ohne Profilfoto in die Welt glühender Verheissungen, vielversprechender Flirts und zukünftiger Blind-Dates.

Weiter, geht ja auch ohne Foto, die Einstellungen prüfen. Aber was ist da denn los, lieber Tinder? Es gibt ja nur drei lächerliche Kriterien, um mir meinen vermeintlichen Traummann zu suchen. Spätestens ab diesem Moment war ich mir ziemlich sicher – Du musst ein „Er“ sein. Herrgott nochmal, eine Frau braucht doch mehr als drei Kriterien, um sich ihren Traummann basteln zu können. Ist doch wahr. Wahre Tinder-Kenner behaupten zwar, dass diese Kriterien durchaus ausreichen, um sich mit jemandem zu treffen und einen heissen One-Night-Stand zu verbringen. Die sind in meinen Augen wenigstens ehrlich.

Es gibt folgende Kriterien:

– Distanz (Wahl von 1 bis 160 km)
– Geschlecht (Mann, Frau, Mann/Frau
– Alter (18 bis 55+)

Ich wählte folgende Einstellungen:

– 30 km
– Mann
– 35-45

Und los geht’s. Denke ich und harre gespannt der Dinge respektive Vorschläge, die da kommen. Wieder geht nichts. Allmählich machte ich mir Sorgen. Meine Freundin und ich haben jedoch schnell eine mögliche Erklärung gefunden: Es muss an meinem Alter liegen. Immerhin habe ich schon 42 Jährchen auf dem Buckel. Wir öffneten eine zweite Flasche Rotwein. Der Frust und diese Erkenntnis mussten erst einmal gebührend verdaut werden.

Meine Freundin (1 Jahr jünger) eröffnete ebenfalls ein Account bei Dir. Mit dem gleichen Resultat. Rien ne va plus.

Wir schraubten an den Einstellungen rum, erhöhten das gewünschte Alter, erweiterten den Distanzradius. Immer mit demselben Resultat. Wir erhielten keine Personenvorschläge.

Lieber Tinder, da mussten wir dann schnell mal googeln und was haben wir heraus gefunden? Deine Zielgruppe sind Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren. Tja, da haben wir wohl Pech gehabt.

Am nächsten Morgen wollte ich mit Dir Schluss machen und habe Dich beendet. Aber irgendwie konnte ich nicht so rasch aufgeben. Ich wollte Dich unbedingt kennenlernen. Also habe ich Dich nochmals neu gestartet und siehe da. Ich blinkte in die Blind-Dating-Welt und schwupp wurden mir ganz viele Vorschläge von Männern, die meinen Suchkriterien entsprachen, angezeigt.

Endlich konnte es losgehen. Jede Menge schöne und (vorallem) auch weniger schöne Singlemänner, die mich via Bildschirm verheissungsvoll anlächelten (oder auch nicht lächelten). Ich geb’s ja zu. Ein bisschen aufregend fand ich das schon. Aber eben…erstens kommt es anders als…blablabla. Was ja nicht anders zu erwarten war.

Ich lege also los, habe fleissig alle angezeigten Vorschläge nach links gewischt. Links heisst „Nope“ (gefällt mir nicht). Und wieder habe ich gewartet, bis endlich ein Match (Treffer) stattfindet. Fälschlicherweise ging ich davon aus, dass wenn jemand MEIN Foto liked, dass dann ein Treffer stattfindet und mir dieser dann auf dem iPhone als Match angezeigt wird. „Read the fucking manual“ oder wie war das gleich nochmal?
Spätestens jetzt werden all diejenigen, die Dich etwas besser kennen als ich, sich an die Stirn fassen und mit dem Kopf schütteln. Weil, so geht es eben nicht. Ein Match findet nur dann statt, wenn ich bei einem mir angezeigten Foto auf das Herz klicke oder das Bild auf die rechte Seite wische. Macht nun diese Person mit meinem Bild dasselbe, dann, und nur dann gibt es einen Treffer und man bekommt die Möglichkeit, sich via Chat zu schreiben.

Nach dieser Erkenntnis habe ich ganz viele Fotos geliked und siehe da, plötzlich klappte es mit den Matches. Auch in meinem Alter gibt es doch noch Männer, die mit einem in Kontakt treten wollen. Erleichterung machte sich breit. Das war ein ganz tolles Gefühl, selbst dann, wenn ich von vornerein wusste, dass es zu keinem Blind-Date kommen würde.

Lieber Tinder, es ist mein voller Ernst, gewisse Nutzer von Dir sollten dringend einen Knigge-Kurs besuchen. Man fällt doch nicht gleich mit der Tür ins Haus. So im Stil von:

– Hallo F, ich mach’ gern Sport und Du…
– Hallo, gerne würde ich dich treffen. Bin an einer Beziehung nicht interessiert. Nur Sex
– Lust auf ein heisses Date?

Auch solche Angebote bekam ich:

– Liebe Franziska, wir suchen Jemanden für eine flotten Dreier. Bist Du vielleicht diejenige, welche?
Oder die ganz Originellen

– Franziska, ein schöner Match. Da haben wir ja schon eine Sache gemeinsam.
– Hallo Franziska, wie geht es Dir?
– Hallo Franziska, schön, dass wir eine Gemeinsamkeit haben. Gerne möchte ich mehr von Dir erfahren. Lust auf einen Drink?
– Du hast so strahlende Augen
– Liebe F, Dein Lächeln ist so bezaubernd.

Meine Reaktion? Panik! Hilfe, Hilfe, Hilfe. Lieber Tinder, ja, ich wollte wissen, wie es sich mit Dir anfühlt. Und jetzt weiss ich es. Was, wenn einer dieser Typen ein Stalker ist, ein Psychopath, der mich via Facebook ausfindig macht?

Lieber Tinder, ich musste die Sache beenden. Kurz und schmerzlos. Nimm es nicht persönlich. Mag sein, dass Du für viele die richtige App bist, um einen Flirt anzubahnen oder eine Bekanntschaft zu finden. Vielleicht im Besten Falle sogar eine Beziehung mit einem Menschen aus Fleisch und Blut. Ich habe jedoch so meine Zweifel.

In meinem Augen bist Du nicht der oder die Richtige, um eine ernsthafte Partnerschaft zu finden. Es mag Ausnahmen geben, das ist ja immer so. Doch selbst wenn ich Single wäre, diese Art der Partnersuche käme für mich nicht in Frage, da viel zu anstrengend, zeitaufwändig und unzuverlässig. In der Woche mit Dir ist mir aber auch klar geworden, warum Dich so viele Menschen faszinierend finden. Du bist ein durchaus spannender Zeitvertreib.

Ich habe Dich also kurzerhand wieder gelöscht. Von meinem iPhone und aus meinem Leben. Lieber Tinder, Du bist ja nicht allein, das tröstet mich. Allein in Deutschland hast Du ungefähr zwei Millionen Nutzer.

Und der „Blick“ publizierte heute gar eine Meldung, dass sich dank Dir sogar Geschwister wieder gefunden haben, die sich wegen der Scheidung der Eltern vor sechszehn Jahren gänzlich aus den Augen verloren hatten. Mal ganz abgesehen davon, dass die Beiden zuvor heftig miteinander geflirtet haben. Und doch, lieber Tinder, das hast Du gut gemacht. Bravo.

Ich grüsse Dich herzlich

(Nicht-mehr)
Deine Franziska

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

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