Zum Abschied: Brief an meine Mutter

Liebes Mami

Eine Woche ist nun bereits vergangen, seit du für immer eingeschlafen bist. Dein Tod kam nicht überraschend und irgendwie doch. Ich bin sehr, sehr traurig, dass du nicht mehr da bist, und gleichzeitig empfinde ich eine Ruhe und Gelassenheit, die ich seit fünf Jahren so nicht mehr gespürt habe.

Der Tod hat seinen Schreck verloren. Komm, süsser Tod, komm. Und er kam in den frühen Morgenstunden, nach einer stürmischen Nacht. Ich sass kurz zuvor noch an deinem Bett und durfte dich ein Stück auf deinem allerletzten Weg begleiten. Nun bist du frei. Frei von Schmerzen, frei von Leid. Der Wind hat deine Seele davon getragen gen Himmel. Du hast deine Ruhe gefunden. Deine letzte Ruhe.

Liebes Mami, du fehlst mir unglaublich und doch bin ich froh für dich, dass du endlich gehen durftest und deinen Frieden gefunden hast. Für mich ist das wahrlich ein Trost.

Im den letzten zwei Jahren habe ich mehr als einmal Abschied von dir genommen, doch du hast dich immer wieder aufgerappelt und weitergekämpft. Getrieben, unruhig und von Schmerzen geplagt. Körperlich und psychisch am Limit.

Für mich war das teilweise schier unerträglich. Auszuhalten und zu erleben, wie du nach und nach immer weniger wurdest. Es war ein Sterben auf Raten für dich und für mich ein Abschied auf Raten.

Die letzten fünf Jahre waren eine anstrengende und beschwerliche Zeit. Seit dem Tod von Papa war ich die einzige Angehörige, die sich deiner angenommen hat sich um dich gekümmert hat.

Während ich dich die letzten zwei Jahre regelmässig im Pflegeheim besucht habe, sind mir auf deiner Abteilung gerade mal drei andere Besucher über den Weg gelaufen. Unglaublich zwar, und irgendwie trotzdem nachvollziehbar. Krankheit und Leiden eines Angehörigen mitansehen zu müssen und auszuhalten, sind kein leichtes Unterfangen. Es geht an die eigene Substanz, selbst dann, wenn man sich abzugrenzen vermag.

Unsere gemeinsame Vergangenheit ist von vielen schwierigen und belastenden Momenten geprägt. Doch die Erinnerungen daran, haben schon seit einer geraumen Weile ihre Dunkelheit verloren.

Wenn ich dein Leben Revue passieren lasse, wird mir bewusst, wie stark du eigentlich warst. Du wurdest 1939 geboren, und die Prognosen für ein glückliches und erfülltes standen von Beginn an unter einem schlechten Stern.

Und so ist es auch gekommen: Mutterliebe hast du niemals erfahren dürfen, du wurdest von deinem Grossvater sexuell missbraucht und danach wurdest du in eine fremde Familie gegeben und verdingt. Strenge Arbeit und körperliche Bestrafungen gehörten fortan zu deinem täglich Brot. Und das wortwörtlich: Aus einem Teller Suppe und einem Stück vertrocknetem Brot bestanden deine kärglichen Mahlzeiten.

Die Vorstellungen an die ersten zwölf Jahre deines Lebens sind schlicht und ergreifend nur erschütternd und tragisch. Du musstest soviel Leid erfahren und ertragen, das übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Ich denke nicht nur meines, sondern das von ganz vielen Menschen.

Das Urvertrauen, das für Menschen so unabdingbar wichtig ist, um liebevolle und beständige Bindungen eingehen zu können, hast du nie aufbauen können. Das Urvertrauen ist ein Grundpfeiler, auf die sich die Entwicklung und Ausprägung einer gesunden Persönlichkeit stützt. Oder, wenn dieses eben gänzlich fehlt, krank macht.

Bereits als 10Jährige littest du unter Depressionen und Schlafstörungen. Kein Wunder, denn niemand war für dich da, der sich deiner angenommen hätte. Erst ein paar Jahre später hast du erfahren, dass es auch Menschen gibt, die es gut mit dir meinen. Für die Genesung deiner Seele war es bereits zu spät. Die Last war viel zu schwer für dich allein. Papa und auch ich haben daran mitgetragen. Ein kleines bisschen nur, aber leider hat dir das keine Erleichterung verschafft. Zu schwer wog das Erlebte.

Liebes Mami, ich weiss, du hast dein Bestes gegeben. Für mich, für uns als Familie. Du hast gegeben, was dir möglich war, und ich bin dir dafür mehr denn je dankbar.

Du hast mir die Liebe gegeben, zu der du fähig warst. Ob und wie viel ist gänzlich unwichtig. Zumindest jetzt aus der Sicht als erwachsene Tochter. Es gab Zeiten, da habe ich das nicht erkannt. Oder nein, falsch formuliert – ich habe es erkannt, konnte aber nicht damit umgehen. Die eigenen Defizite standen damals noch im Vordergrund. Doch im Gegensatz zu dir, hatte ich die Möglichkeit und das Glück, „aufzuräumen“.

Jetzt, auf dem letzten Lebensabschnitt, konntest du dein Leben nicht mehr selber gestalten. Und wenn ich so darüber nachdenke, konntest du es eigentlich nie. Wir alle tragen unsere Rucksäcke, doch deiner war besonders schwer. Deshalb bin an oberster Stelle dankbar (danke, lieber Gott), dass du deine Last endlich ablegen konntest. Niemand verdient es, so zu leben und zu leiden.

In deiner Todesanzeige habe ich folgendes geschrieben: Endlich einschlafen zu dürfen, wenn man das Leben nicht mehr selbst gestalten kann, ist der Weg zur Freiheit und Trost für alle.

Ich bin sicher, dass es dir jetzt besser geht. Anders zwar, aber leichter. Du durftest, konntest, endlich loslassen. Nie mehr seelischen Qualen, nie mehr körperliche Schmerzen – nie mehr Drama. Du hast deine irdischen Lasten abgelegt.

Der Vorhang ist gefallen. Der letzte Akt gespielt. Jetzt tanzen die Engel im Himmel und heissen dich Willkommen. Die Dunkelheit weicht dem Licht. Die Schwere der Leichtigkeit.

Liebes Mami, ich werde dich nie, niemals vergessen. Viele Erinnerungen sind verschwommen, einige ganz klar. Meine Liebe zu dir war nicht bunt, auch nicht schwarz-weiss. Aber es war und ist Liebe, denn du bist mein Ursprung, mein Herz und wirst für immer ein Teil von mir sein, so wie ich ein Teil war von dir.

Und weil es so passend ist, hier noch für dich ein Abschnitt aus meinem ich-werde-dabei-immer-an-dich-denken-und-ein-bisschen-weinen-Lied:

Es chunnt en neue morge unes hällers Liecht

Eis für di und eis für mi

U la nies ner vergässe was isch gsi

(Patent Ochsner / Guet Nacht, Elisabeth)

Dein Nudeli

 

 

 

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

2 Kommentare zu „Zum Abschied: Brief an meine Mutter

  1. Sehr schöne Worte zum Abschied und Gedenken an einen geliebten Menschen. Worte des Verstehens und des Verzeihens. Worte der Liebe. Ich wünschte noch viel mehr Menschen könnten ihre schwierige Beziehung zu ihren Eltern schlussendlich genauso sehen. Mein Herzliches Beileid und dennoch Danke für diesen wunderbaren Beitrag.

    Liebe Grüße

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