Meine Mutter, die Psychiatrie und ich – Teil 1

Der Ort liegt idyllisch am Rande der Stadt Zürich. Die Stadt liegt einem zu Füssen. Das Gebäude saniert, modernisiert. Obwohl es mitten im Grünen liegt, wirkt es steril. Es erinnert mich an ein Gefängnis und ein bisschen an ein Internat. Oder eine Mischung aus beidem, ich kann es nicht recht einordnen. Doch das Gefühl, welches sich wie ein dunkler Schatten über meine Seele legt, wenn ich diesen Ort betrete, ist dasselbe wie früher, als ich noch ein Kind war. Ein Gefühl des Unbehagens, das sich nur schwer abschütteln lässt.

Ich betrete das Gebäude. Türen, die sich automatisch öffnen, sobald man den Mechanismus mit dem Körpergewicht in Gang bringt. Doch nicht alle Türen öffnen sich wie von Zauberhand. Ganz viele sind verschlossen. Zur Sicherheit der Insassen. Falsch: Patienten. Zur Sicherheit der Patienten. Vielleicht auch zu meinem Schutz?

Leere Flure, nur ab und zu läuft mir jemand entgegen. Die Innenhöfe laden zum Verweilen ein. Eigentlich. Die Vögel zwitschern, die Blüten blühen bereits in voller Pracht. Der Frühling hat Einzug gehalten. Doch niemand sitzt auf den Bänken und geniesst die warmen Sonnenstrahlen. In den Gängen herrscht kein geschäftiges Treiben. Es ist still. Zu still. Beinahe schon unheimlich. Nur das Zwitschern der Vögel erfüllt die Stille und füllt sie mit Leben. Ich muss unweigerlich an Jack Nicholson denken und an seine Rolle im Film „Einer flog über das Kuckucksnest“, ein Film aus den Siebzigern. Die Psychiatrie als wahrgewordener Albtraum – Zeiten, die Gott sei Dank längst der Vergangenheit angehören.

Die Rede ist von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) , im Volksmund auch bekannt als Burghölzli. Der Ort, an dem meine Mutter nun seit drei Wochen in der geschlossenen Abteilung der Alterspsychiatrie stationiert ist, Abteilung G1. Auf der geschlossenen Abteilung werden Menschen untergebracht, die entweder für sich oder für andere eine Gefahr darstellen. Sie ist nicht freiwillig dort. Abgeschoben vom Altersheim als Übergangslösung bis zum Eintritt ins Pflegeheim. Weil es für Menschen, wie meine Mutter einer ist, keinen Platz mehr gibt in dieser Gesellschaft. Das kann man einfach nicht schönreden. Alte, kranke Seelen. Mutterseelenallein.

Meine Mutter ist nicht zum ersten Mal hier. Es gab auch früher immer wieder Zeiten, wo sie zur Stabilisierung und Therapie ins Burghölzli eingewiesen werden musste. Ihre Aufenthalte waren auch damals nicht freiwillig. Meine Mutter hat diesen Ort gehasst wie die Pest und war immer sehr froh und dankbar, wenn sie wieder nach Hause konnte. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Heute aber hat sie kein Zuhause mehr. Ein markanter Unterschied zu früher.

Es ist ein Ort, den auch ich hasse. Es war immer schlimm, wenn ich als Kind meine Mutter besuchen musste. Es sind Erinnerungen, die ich weitgehendst verdrängt habe. Menschen, die mir unheimlich waren, deren Verhalten ich nicht einordnen konnte, ein Ort, der mir Angst machte. Und meine Mutter mittendrin. Ein Ort, den man nicht in seinem Gedächtnis abspeichern möchte. Bis zur nächsten Einlieferung. Bis heute.

Ich besuche meine Mutter – meine alte, traurige, verbitterte und schwer psychisch-kranke Mutter. Mein Mann begleitet mich, aber er wartet draussen. Es ist ein Gang, bei dem ich moralische Unterstützung brauche. Meine Mutter liegt im Bett. Ein Anblick, den ich nicht anders kenne. Sie wirkt ruhig – ruhiggestellt, trifft es wohl eher. Sie sieht zerbrechlich. So habe ich sie schon lange nicht mehr wahrgenommen.

Wir haben uns nicht viel zu sagen. Die Frau, die mir keine gute Mutter sein konnte und die mir doch das Kostbarste geschenkt hat – mein Leben. Auch wenn es nur ein ganz kleines bisschen Wärme und Mitgefühl ist, was ich ihr geben kann. Ich nehme ihre Hand in die meine. Wenngleich es nicht aus reiner Liebe geschieht, so doch aus Menschlichkeit und Nächstenliebe.

Fortsetzung folgt…

 

 

 

 

Verfasst von

Ich stehe mitten im Leben und schreibe darüber. Über das Leben mit all seinen Facetten. Mal bunt, mal düster, mal witzig, mal ernst. So, wie das Leben eben ist. Immer in Bewegung. Sowohl privat (Mutter von drei Kindern 9, 10 & 12 Jahre alt) als auch beruflich interessiere ich mich für Psychologie - ich bin diplomierte Einzel-, Paar- und Familienberaterin. Schreiben ist nicht einfach ein Hobby - es ist Leidenschaft.

8 Kommentare zu „Meine Mutter, die Psychiatrie und ich – Teil 1

  1. Genau das.
    Genau so.

    Ich glaube, man muss diese Erfahrung geteilt haben, um ansatzweise nachvollziehen zu können, was eine solche Erfahrung bedeutet und die Stärke, den Mut und die Größe dahinter zu erkennen.

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  2. Ich bin auf die Fortsetzung gespannt, obgleich ich jedesmal mit dicker Gänsehaut lese und meine Sinne nachher noch sehr lange äußerst geschärft sind.

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  3. So düster und doch auch (wenn auch nur unterschwellig) ein wenig Liebe und Herzenswärme. Ich kann es nicht weiter beurteilen, was es für ein Gefühl ist – aber du hast es in so tolle Worte gefasst, dass ich es regelrecht spürte, diese Düsternis, die von diesem Haus ausgeht.
    Vielen Dan für einen tollen Beitrag
    Gruß
    Ede-Peter

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  4. Als gesunder Geist auf der geschlossenen Station braucht man sehr viel Kraft. Es ist erdrückend, beängstigend und schwer greifbar oder in Worte zu fassen. Du hast sehr treffende Worte gefunden, danke für diesen sehr persönlichen Artikel!

    Viele liebe Grüße,
    Cathi

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